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Der Bundestagsausweis ließ die Vopos ratlos werden

KURT NEUBAUER Der SPD-Politiker wohnte im Ost-Berliner Bezirk Friedrichshain - und war zugleich Mitglied des Bundestages

01.08.2011
2023-08-30T12:16:47.7200Z
4 Min

Von 1949 bis 1990 gab es zwei deutsche Staaten, einen westdeutschen und einen ostdeutschen. Jeder hatte sein Parlament, auch wenn das in Ost-Berlin bis zum 18. März 1990 alles andere als eine demokratisch gewählte Volksvertretung war. Im westdeutschen Bundestag saßen die Westdeutschen, in der DDR-Volkskammer die Ostdeutschen - soweit die Theorie.

In der Praxis war auch das komplizierter, wie so vieles im deutsch-deutschen Mit- und Gegeneinander.Nach westlicher Rechtsauffassung war Berlin auch in den Zeiten der Teilung eine gemeinsame Stadt, wenngleich es in Ost-Berlin eine eigene Verwaltung, eine eigene Währung und seit 1961 mit der Mauer auch eine physische Abgrenzung gab. Berlin war im Deutschen Bundestag vertreten, allerdings hatten die Berliner Bundestagsabgeordneten einen Sonderstatus. Ihre Stimmen wurden zwar mit ausgezählt ("Für das Gesetz stimmten 329 Abgeordnete und zwölf Abgeordnete aus Berlin"), aber für eine Gesetzesannahme oder Kanzlerwahl zählten sie nicht. Außerdem wurden die Berliner Abgeordneten nicht in der Stadt in allgemeinen Wahlen bestimmt, sondern vom Abgeordnetenhaus von Berlin (faktisch West-Berlin) benannt. Dies geschah nach der Stärke der einzelnen Fraktionen. Willy Brandt, Paul Löbe, Heinrich Krone, Ernst Lemmer, Ernst Benda, Karl Schiller und Hans-Jochen Vogel waren nur einige derjenigen, die so nach Bonn entsandt wurden.

Das war der Rahmen für eine Besonderheit, die mit dem Namen Kurt Neubauer verbunden ist. Er war nämlich ein Ost-Berliner, wohnte auch dort, im Bezirk Friedrichshain - und war dennoch Mitglied des Bundestags, gewählt vom Abgeordnetenhaus.

Bis zum Mauerbau konnte man sich in ganz Berlin frei bewegen, aber Ausweiskontrollen an der Sektorengrenze gab es von Seiten der Volkspolizei der DDR durchaus. Wenn Neubauer auf seinem Weg von Ost nach West, von seiner Wohnung zum Flughafen Tempelhof, von dem aus er nach Bonn flog, den Satz hörte: "Deutsche Volkspolizei, die Personaldokumente bitte", musste er sich entscheiden: Sollte er in die eine Tasche greifen und seinen DDR-Personalausweis zücken - oder in die andere und seinen Bundestagsausweis vorzeigen? Es war meist dieses Dokument, das er den VoPos präsentierte, und mehr als ein Mal löste er damit Ratlosigkeit aus. Des Öfteren mussten die Polizisten sich erst telefonisch Weisungen von oben holen, bevor sie Neubauer seiner Wege gehen ließen.

Kurt Neubauer war Sozialdemokrat. Bis zum Mauerbau gab es die SPD in ganz Berlin. Zwar hatten die Sowjets im Ostteil der Stadt 1946 die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) als Verschmelzung der Sozialdemokratischen Partei und der Kommunistischen Partei erzwungen, auf Druck der Westalliierten mussten sie jedoch die SPD parallel ebenfalls zulassen. Dafür durfte die SED in West-Berlin aktiv werden, wo sie allerdings politisch nie ein Bein auf die Erde bekam. So gab es also in West-Berlin die SED (später: SEW, Sozialistische Einheitspartei Westberlins) und in Ost-Berlin weiterhin die SPD. Trotz der politischen Spaltung der Stadt in Ost und West war die SPD in ganz Berlin eine einheitliche Partei, die aus verschiedenen Kreisverbänden bestand.

Kurt Neubauer hatte sich in der SPD engagiert, seit er 1946 aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war. Er wurde hauptamtlicher Jugendsekretär der Ost-Berliner Kreisverbände seiner Partei und 1947 - ebenfalls hauptamtlich - Kreisvorsitzender der SPD im Arbeiterbezirk Friedrichshain. Als er 1952 mit 29 Jahren in den Bundestag einzog, war er also kein Unbekannter. Bis 1963 gehörte er dem westdeutschen Parlament an. Aus westlicher Sicht gab es damit kein Problem. Neubauer war volljährig und Deutscher. Dass die DDR ihn als ihren Staatsbürger reklamierte, spielte für die westliche Rechtsauffassung keine Rolle.

Ab 1955 gab es mit der Sozialdemokratin Margarete Heise eine zweite Parlamentarierin aus Ost-Berlin im Bundestag. In Bonn waren sie normale Abgeordnete, in Ost-Berlin dagegen Exoten. Zwar respektierte etwa Neubauers Hausgemeinschaft seine besondere Situation (nur ein Mitmieter war ein Stasi-Zuträger, wie er nach dem Mauerfall erfuhr), aber die DDR schickte ihm dauernd Delegationen auf den Hals, die mit ihm "diskutieren" wollten. Neubauer ging Konfrontationen möglichst aus dem Weg. Er wusste, dass echte Gespräche mit diesen Abordnungen nicht zu führen waren.

Die Arbeit der Ost-Berliner SPD-Kreisverbände war unter den Bedingungen des SED-Staates nicht einfach; Neubauers Kreisverband verlegte etwa seine Veranstaltungen in den benachbarten West-Berliner Bezirk Kreuzberg, um vor Störungen sicher zu sein. Gleichwohl wollte die SPD auch im Ostteil Präsenz zeigen. So lud Neubauer etwa kurz vor dem Mauerbau Willy Brandt in seinen Stadtbezirk ein, und tatsächlich kam der West-Berliner Regierungschef an einem Markttag zum Boxhagener Platz, wie sich Neubauer noch Jahrzehnte später erinnerte. Es gab keine Kundgebung mit Reden und Lautsprechern; Brandt sprach einfach mit den Menschen, die sich in großer Zahl um ihn scharten.

Mit dem Mauerbau wurde Neubauer zum Umzug nach West-Berlin gezwungen. Dabei hatten die Neubauers Glück im Unglück. An dem verhängnisvollen Sonntag, dem 13. August, war Neubauer nicht in Ost-Berlin, sondern mit Brandt auf Wahlkampfreise von Nürnberg nach Hannover, die Bundestagswahl stand vor der Tür. Neubauers Frau und Sohn verbrachten das Wochenende auf ihrem Laubengrundstück im West-Berliner Stadtteil Heiligensee. So wurde die Familie nicht eingemauert, aber sie wurde ausgesperrt. Die DDR nutzte den Mauerbau, um das "Problem Neubauer" zu beseitigen. Der gesamten Familie wurde die Einreise nach Ost-Berlin verweigert; sie durfte nicht einmal noch etwas aus der Wohnung holen. Erst zehn Jahre später konnte Kurt Neubauer seinen Heimatbezirk auf der Basis der Besuchsregelungen als "Tourist" besuchen.

1963 wechselte Neubauer vom Bundestag in den Berliner Senat, dem er 14 Jahre lang als Jugend- und später Innensenator angehörte.

Der Autor ist Leiter der

Europäischen Akademie in Berlin.