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Ein Parlament wird mündig

VOLKSKAMMER Vier Tage nach dem Mauerfall beginnt auch hier die »Wende«

01.08.2011
2023-08-30T12:16:47.7200Z
3 Min

Diese Tagung der Volkskammer hätte als Lehrstunde des Parlamentarismus in die DDR-Geschichte eingehen können. Aber nur der gestammelte Satz eines greisen, grauhaarigen, gebeugten kleinen Mannes hat sich in die kollektive Erinnerung der Menschen eingegraben. "Ich liebe, ich liebe doch alle Menschen", rief Erich Mielke, der in der DDR-Bevölkerung gefürchtete und verhasste Minister für Staatssicherheit, den Parlamentariern am 13. November 1989 zu. Die quittierten es mit höhnischem Gelächter. Zuvor schon hatte er mit der Aussage, die Stasi habe "einen außerordentlich hohen Kontakt zu allen werktätigen Menschen" gehabt, für gequälte Heiterkeit gesorgt. Es war - fast am Ende der nahezu zehnstündigen Sitzung - Mielkes erster Auftritt überhaupt vor dem Parlament, das an dem Tag seinem Namen erst gerecht wurde.

Inhaltsleere Besprechungen

Zugleich wurde in der Debatte klar, dass in den früheren Volkskammertagungen inhaltsleere Besprechungen stattgefunden hatten, die kaum Einfluss auf die reale Politik und das Wirtschaftsleben hatten. Die Sitzung, mit der die "Wende" in der Volkskammer eingeleitet wurde, fand vor dem Hintergrund massiver Demonstrationen mit etwa 200.000 Bürgern in Leipzig und mehr als 100.000 in Dresden und Zehntausenden in anderen Städten der DDR statt. Vier Tage zuvor war die Mauer gefallen, jeden Tag verließen bis zu 2.500 Menschen die DDR.

Die Tagung begann um 10:30 Uhr mit der Wahl eines neuen Präsidiums, nachdem das alte kollektiv unter Leitung von Horst Sindermann zurückgetreten war. Sie endete mit der Wahl des SED-Abgeordneten Hans Modrow zum neuen Vorsitzenden des Ministerrates (Ministerpräsidenten), nachdem die alte Regierung einstimmig abberufen worden war. Die ganze Sitzung wurde live im Fernsehen übertragen, auch das ein Novum in der DDR-Geschichte.

Erschütternde Szenen spielten sich in dem großen Saal des Palastes der Republik in Berlin ab. Wut, als Abgeordnete von der Regierung und der SED jahrelang betrogen und belogen worden zu sein, mischte sich mit Selbstmitleid. Mit teils harschen Worten versuchten die Abgeordneten ihre jüngste Vergangenheit aufzuarbeiten. Der Fraktionsvorsitzende der SED, Werner Jarowinsky, warf dem abgelösten Staats- und SED-Chef Erich Honecker und dem alten Politbüro vor: "Ihr Führungsstil war weithin durch politische Arroganz und Selbstgefälligkeit, nicht aber durch sachliche, kollektive Beratung gekennzeichnet." Trotz seiner harten Kritik an der eigenen Partei verzeichnet das Sitzungsprotokoll nur einmal am Ende der Rede "Beifall".

Die sonst so folgsamen Mitglieder der Blockparteien stellten den verfassungsmäßig verankerten Führungsanspruch der SED in Frage. Alle Parteien sprachen sich allerdings für eine eigenständige DDR und eine Erneuerung des Sozialismus aus. Die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten stehe "nicht auf der Tagesordnung", hob der Staatsratsvorsitzende Egon Krenz hervor. Das habe er auch in einem Telefonat mit Bundeskanzler Helmut Kohl betont.

Untersuchungsausschuss

Die Abgeordneten setzten an diesem Tag außerdem noch einen "Zeitweiligen Ausschuss zur Überprüfung von Fällen des Amtsmissbrauchs, der Korruption, der ungerechtfertigten persönlichen Bereicherung und anderer Handlungen, bei denen der Verdacht auf Gesetzesverletzungen besteht" ein. Auch versprachen sie, ihre Pflichten und Rechte als Abgeordnete ernst zu nehmen. Viel Zeit hatten sie allerdings nicht mehr, um ihren Versprechen nachzukommen. Vier Monate später, am 18. März 1990, wurde die Volkskammer erstmals in freier und geheimer Wahl gewählt.

Der Autor war 1989

dpa-Korrespondent in Ost-Berlin.