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Tiefe Kerbe durch das Land

VON JÖRG BIALLAS

01.08.2011
2023-08-30T12:16:47.7200Z
2 Min

Wer je versucht hat, einem Kind den Mauerbau zu erklären, kennt die zentrale Frage: Warum haben die das gemacht? Da hilft kein Verweis auf zeitgeschichtliche Zusammenhänge, auf weltpolitische Bedingungen, auf militärstrategische Konstellationen. Warum haben die das gemacht? Ein ganzes Land eingemauert. Seine Menschen eingesperrt. Deutsche von Deutschen getrennt. Ohne Rücksicht auf familiäre Bande und das Recht auf Freiheit. Ohne Skrupel, diesem Freiheitsdrang an den Grenzstreifen feige tötend Einhalt zu gebieten. Die haben das gemacht, weil der DDR-Diktatur sonst das Volk weggelaufen wäre! Aber reicht das als Erklärung für all die Menschenverachtung, mit der dieses Regime seinen Bürgern begegnete?

Es sollte 28 Jahre dauern, bis Mut und Beharrungsvermögen zunächst einiger weniger, dann von mehr und mehr Menschen die Mauer schließlich schleiften. Heute, weitere 22 Jahre später, ist es ein halbes Jahrhundert her, dass die DDR sich nach Westen hermetisch abriegelte und diese Grenze zynisch "Antifaschistischer Schutzwall" nannte. Als hätte es eine reale faschistische Bedrohung gegeben! Als wäre der schwierige Umgang mit dem nationalsozialistischen Erbe nur ein Problem der Bundesrepublik und nicht auch der DDR gewesen!

Die Mauer hat eine tiefe Kerbe in der gesamtdeutschen Entwicklung hinterlassen. Doch alle Unterschiedlichkeit, die die Menschen in Ost und West über Jahrzehnte geprägt hatte, vermochte es nicht, die gemeinsamen Wurzeln zu kappen. In nur 20 Jahren wurden in den ostdeutschen Ländern in atemberaubender Geschwindigkeit die Folgen sozialistischer Fehlplanung und ideologischen Irrglaubens weitgehend beseitigt. Darauf darf, darauf muss das ganze Land zufrieden, ja stolz blicken.

Freilich gibt es Ostdeutsche, die sich als Verlierer der Wende zur neuen Zeit empfinden. Weil der Arbeitsplatz abgebaut wurde. Weil die Kinder in wirtschaftlich verheißungsvollere Landstriche abwandern mussten. Weil das Gefühl sozialer Sicherheit abgenommen hat.

Das muss ernst genommen werden. Tatsächlich ist die Wirtschaft im Osten noch längst nicht so leistungsstark wie in Westdeutschland. Die Erwerbslosenrate ist durchschnittlich höher, das Einkommen dafür deutlich kleiner. Daran wird sich so bald nichts ändern. Der - übrigens richtige - Verweis auf ebenfalls darbende Regionen in den alten hilft in den neuen Bundesländern niemandem weiter. Und dennoch: Ein Grund, sich mental abzuschotten, ist all das nicht. Die Mauer ist weg. Gott sei Dank.