Piwik Webtracking Image

Verzweifelte Lockrufe

ÄRZTEMANGEL Kleine Gemeinden lassen sich viel einfallen, um Mediziner anzulocken. Mit wenig Erfolg, wie Sachsen zeigt

05.12.2011
2023-08-30T12:16:54.7200Z
6 Min

Gut 20 Minuten dauert die Fahrt vom Chemnitzer Süden nach Niederwiesa. Irina Tarassenko macht sie seit gut einem Dreivierteljahr zweimal täglich - und macht damit die Niederwiesaer sehr froh. Denn die 39-Jährige ist das, was man in Sachsen derzeit wohl am dringendsten sucht: Landärztin. Im Frühjahr entschloss sich die gebürtige Kasachin, ihren Job an einer Chemnitzer Klinik aufzugeben, um in Niederwiesa eine eigene Praxis zu eröffnen. Gut 5.000 Menschen leben in der Gemeinde im Landkreis Mittelsachsen, zu dieser Zeit waren sie seit über einem Jahr ohne Hausarzt im Ort.

Enger Kontakt mit Patienten

Nachdem Tarassenkos Vorgänger im Frühjahr 2010 in Ruhestand gegangen war, fand sich - wie vielerorts in der ostdeutschen Provinz - einfach niemand, der seine Praxis übernehmen wollte. Bis die Frau mit den roten Haaren kam. "Ich bin wahnsinnig gern Landärztin", sagt sie mit hörbarem osteuropäischen Akzent, "so habe ich ganz engen Kontakt zu meinen Patienten und kann alle Entscheidungen selber treffen."

Auch das Gefühl, hier im Ort dringend gebraucht zu werden, habe ihr die Entscheidung leicht gemacht. "Gerade die alten Leute sind froh, dass sie sich jetzt die langen Wege ersparen können", erläutert Tarassenko. Da sie gemeinsam mit ihrem Mann und den beiden Kindern ein Haus in Chemnitz hat, ist sie nicht umgezogen, sondern pendelt. "Das ist eigentlich schade, denn Niederwiesa ist wirklich schön. Ich habe es noch kein einziges Mal bereut, hierher gekommen zu sein", sagt die Medizinerin.

Für Ärztinnen und Ärzte wie Irina Tarassenko ist die Auswahl in Sachsen derzeit groß. Verzweifelt suchen viele ländliche Gemeinden nach Hausärzten - und versuchen nach Kräften, den Medizinern das Leben auf dem Land schmackhaft zu machen. Mit bescheidenem Erfolg: Die Gemeinde Langenbernsdorf bei Zwickau etwa bietet möblierte Praxisräume, die der neue Allgemeinmediziner ein Jahr lang kostenlos nutzen könnte. "Aber es kommt einfach keiner", sagt Jörg Kunert von der Gemeindeverwaltung niedergeschlagen, "obwohl wir schon seit fast vier Jahren suchen." In regelmäßigen Abständen machen auch die Bewohner der Gemeinde ihrem Ärger darüber Luft, wegen jeder Grippe in die nächste Stadt fahren zu müssen, "aber trotz vieler Annoncen in verschiedenen Medien haben wir überhaupt keine Interessenten", berichtet Jörg Kunert.

Nicht anders sieht es in Radeburg, Burgstädt oder Frankenberg aus. Hier werden interessierte Landärzte mit bis zu zehn Jahren Mietfreiheit für die Praxisräume, Bauland oder zinslosen Darlehen gelockt; sogar Umzugskostenzuschüsse, die Übernahme der Kaltmiete oder die Übernahme eines Teils der Sprachkursgebühren für ausländische Ärzte werden angeboten.

Im Stich gelassen

Da all das nicht wirkt, wächst bei den zuständigen Bürgermeistern der Frust. Frank Jäger aus Ohorn etwa in der Westlausitz fühlt sich von aller Welt im Stich gelassen, vor allem aber wirft er der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Totalversagen vor. Seit zwei Jahren hat seine Gemeinde keinen Hausarzt mehr. Eigentlich hatte der alte Arzt weitermachen wollen, dann aber hingeworfen, weil der bürokratische Aufwand der Praxis ihn zunehmend überforderte.

"Dafür habe ich vollstes Verständnis", sagt Bürgermeister Jäger, "der Wust an Irrsinn, der zu dieser ganzen Verwaltung gehört, wird doch jeden Tag schlimmer." Statt ihn bei der Suche nach Ersatz zu unterstützen, habe die KV bloß die Budgets der Ärzte aus den Nachbargemeinden erhöht, die seine Leute eigentlich nicht mehr als Patienten hätten annehmen wollen - in der Hoffnung, dass das für Ruhe sorgen würde. Für Jäger ist das Kapitel dagegen längst nicht abgeschlossen, er will weiter um einen eigenen Arzt in der Gemeinde kämpfen.

Doch dass der kommt, ist unwahrscheinlich. 415 Ärzte, so der Stand von Oktober 2011, könnten in Sachsen noch eine Zulassung bekommen; davon 316 Hausärzte. "Je spezialisierter die Medizin ist - etwa im Bereich der Nuklearmediziner oder Humangenetiker -, desto weniger Versorgungsprobleme haben wir", sagt der Chef der KV Sachsen, Klaus Heckemann. "Aber die Hausärzte befinden sich am anderen Ende der Skala. Hier haben wir einfach insgesamt zu wenige." Allein in Dresden gebe es 55 freie Stellen für Allgemeinärzte - "das wäre in vergleichbar attraktiven Städten in den alten Bundesländern undenkbar".

Alte Bevölkerung

Bei allem Ärger über den Mangel: Heckemann ist froh, dass nun wenigstens realistische Daten auf dem Tisch liegen. Jahrelang habe man in der ärztlichen Bedarfsplanung darüber hinweggesehen, dass Sachsen im bundesweiten Vergleich die älteste und damit medizinisch betreuungsintensivste Bevölkerung habe. Nachdem seit März dieses Jahres ein demografischer Faktor in die Planung aufgenommen wurde, sei noch deutlicher zu sehen, dass in Sachsen Ärzte fehlten.

Auch Knut Köhler, Sprecher der Sächsischen Landesärztekammer, kommt zu einem eindeutigen Fazit: "Selbst in den sächsischen Großstädten haben wir keine Überversorgung - das ist einfach ein Problem der alten Bundesländer." Wohl aber kennt man in Sachsen eine andere Tradition: Die Erinnerung an das dichte Netz der ärztlichen Basisversorgung in der DDR lässt viele vor allem Ältere besonders auf die jetzige Situation schimpfen. Wer es aus früheren Lebensabschnitten ganz anders kennt, für den ist die Tatsache, mit 70 oder 80 Jahren für einen Arztbesuch erst mehrere Kilometer mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Taxi zurücklegen zu müssen, eine besondere Zumutung.

Ändern wird sich daran aber vorerst nichts. Wenn sich aber nicht einmal die Stellen in Dresden besetzen lassen, sieht es für die ländlichen Gemeinden noch schlechter aus. KV-Chef Heckemann weiß, warum: Zum einen schrecke viele junge Mediziner das schlechtere kulturelle Angebot auf dem Lande ab, zum anderen legten gerade Familien Wert drauf, ihre Kinder möglichst wohnortnah in weiterführende Schulen schicken zu können. Ist das nächste Gymnasium zehn oder mehr Kilometer entfernt, sei das für viele ein Ausschlussgrund. Für gewichtiger aber hält er den dritten Punkt: "Früher hatten wir einen Landarzt, dessen Frau als Arzthelferin mithalf. Heute haben wir eine Landärztin, deren Mann meist auch Akademiker ist. Für den ist es ein echtes Problem, dort Arbeit zu finden, wo Landärzte praktizieren." Das könne man nicht wegdiskutieren, "das kann man letztlich nur mit Geld vergüten". Bürgermeister, für die ein Hausarzt im Ort ein "echter Standortvorteil" sei, müssten sich "da richtig was einfallen lassen".

Die Landesärztekammer setzt dagegen auch auf Hilfe von außerhalb: Mehr als 1.400 ausländische Ärzte helfen in Sachsen inzwischen, die Versorgung zu sichern. Während man aber in Österreich gezielt um die Mediziner werbe, werde hierzulande aber auch klar gesehen, dass die Sache mit den Kollegen aus Polen oder Tschechien ein zweischneidiges Schwert sei, sagt Knut Köhler. "Die fehlen ja schon jetzt in ihren eigenen Ländern. Guten Gewissens kann man die nicht abwerben." Trotzdem will und kann aktuell niemand auf die 183 polnischen und 146 tschechischen Ärzte verzichten, die in sächsischen Kliniken oder Praxen arbeiten.

Stipendienprogramm

Auch das Land wurde kreativ: Gemeinsam mit KV und Krankenkassen schnürte das Sozialministerium in Dresden vor zwei Jahren ein gerade verlängertes Förderpaket für Haus- und Fachärzte. Um "drohenden Versorgungsengpässen" entgegen zu wirken, können die Mediziner in den Planungsbereichen Mittlerer Erzgebirgskreis und Torgau-Oschatz Investitionskostenzuschüsse von 60.000 Euro bekommen, wenn sie Praxen neu gründen oder übernehmen. Zudem führte man ein Stipendienprogramm ein, das Mediziner an den Freistaat binden soll. Wer sich verpflichtet, nach dem Abschluss mindestens vier Jahre lang in einer der unterversorgten Regionen zu arbeiten, kann Stipendien von bis zu 600 Euro bekommen.

Ganz neu ist die Idee, am Image der Hausärzte anzusetzen. Das nämlich ist beim potenziellen Nachwuchs eher schlecht, wie eine Befragung von Absolventen der Uni Leipzig ergab: Viele Medizinstudenten glauben, Hausärzte seien im Vergleich zu spezialisierten Kollegen "eher inkompetent". Ein "Patenprogramm für Allgemeinmedizin", bei dem niedergelassene Allgemeinmediziner Studenten für ein Praktikum aufnehmen und zum Teil als Lehrbeauftragte ab dem ersten Semester betreuen, soll zeigen, wie spannend und anspruchsvoll der Job als Hausarzt ist. Das könnte klappen: Wer sich nur fünf Minuten mit der begeisterten Landärztin Irina Tarassenko unterhält, ist davon sofort überzeugt.