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Auf dem Tandem nach Europa

Perspektive Berlin und Paris müssen ihre Verantwortung und Vorreiterrolle besser wahrnehmen

16.04.2012
2023-08-30T12:17:30.7200Z
6 Min

In dem für deutsche Augen in seiner Art, aber auch in seiner Intensität so fremden Wahlkampf um die Präsidentschaft in Frankreich vergeht kaum ein Tag, an dem Kommentatoren und Politiker nicht auf das "Modell" Deutschland verweisen. Vergleichszahlen und Studien zum Verlust der Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs werden präsentiert, zu hohe staatliche Ausgaben oder Arbeitskosten oder mangelnde Exportfähigkeit thematisiert. Es ist aber ein Vergleich, an dem sich die Geister scheiden. Den Franzosen ist relativ bewusst, dass die Deutschen in Bezug auf viele Kriterien erheblich günstiger dastehen und es mit seinem eigenen Land nicht zum Besten steht, aber ihm permanent Deutschland vorzuhalten, ist doch für viele des Guten zuviel. Es ist der "bewundernde Neid" auf Deutschland, die "deutsche Neurose", die dem Selbstbewusstsein der Grande Nation nicht gut tut und allzu leicht unter dem Druck des Wahlkampfes emotionale Überreaktionen provoziert. So brachen in der Frühphase des Wahlkampfes antideutsche Klischees auf, vom deutschen "Nationalismus" oder "Egoismus" oder gar von "Kapitulation", "Unterwerfung" oder "1940 ohne Wehrmacht" war die Rede.

Diskussionsbedarf

Leider werden damit ernste Bemühungen relativiert, den Franzosen zu verdeutlichen, wo ihre Schwächen liegen und ihnen aufzuzeigen, wie der Nachbar oder andere Länder eine Wende erreicht haben. Und leider hat auch niemand bisher den Franzosen erzählt, wie lange der deutsche Nachbar gebraucht hat, um Reformrückstände aufzuholen - und dass dieser Rückstand vielleicht auch etwas mit den Anstrengungen im Zuge der deutschen Wiedervereinigung zu tun hatte. Und doch gerade in diesen Kernthemen der Wirtschafts-, Sozial- und Innenpolitik steckt der grundlegende deutsch-französische und europäische Diskussionsbedarf für die Zeit nach der Wahl. Seine Brisanz wird dadurch noch akzentuiert, dass die französischen Sozialisten und ihr Kandidat François Hollande angekündigt haben, die wesentlichen europäischen Entscheidungen zur Verstärkung der Haushaltsdisziplin nach der Wahl nicht zu ratifizieren, wenn dem Kapitel "Disziplin" nicht ein Kapitel "Wachstum" hinzugefügt wird. Wahlkampfdonner? Kenner der Szene erinnern sich an Lionel Jospin, der als Premierminister 1997 mit der gleichen Marschroute angetreten war.

Die europäische Agenda ist der Kern der deutsch-französischen Agenda, die der neue französische Präsident und die Kanzlerin ab 7. Mai - nach der Stichwahl zur Präsidentschaft - bei ihrer ersten Begegnung abstecken werden. Die Kärrnerarbeit wird im Juli bzw. September folgen, sobald die neue französische Regierung nach den Parlamentswahlen im Amt sein wird. Hinzu kommt: Im Januar 2013 wollen Deutsche und Franzosen den 50. Geburtstag des Élysée-Vertrages mit einer gemeinsamen Sitzung von Assemblée Nationale und Bundestag in Berlin begehen - und beide Seiten haben begonnen, über mögliche Initiativen aus diesem Anlass nachzudenken.

Zu langer Anlauf

Die nüchterne Bestandsaufnahme des Verhältnisses sollte am Anfang dieser Überlegungen stehen, das sich in jüngster Zeit schwer getan hat und in einer Art "midlife crisis" zu stecken scheint. Gemeinsam sollten wir darüber nachdenken, wie beide Seiten ihren Beitrag zur Konsolidierung und Vertiefung der europäischen Einigung verstärken und welche bilateralen Vereinbarungen hilfreich sein können. Es ist Europa, das in der Krisenbewältigung zu viel Zeit brauchte, um Divergenzen zu überwinden - und das den Kompass für seine Entwicklung sucht: Was müssen wir tun, um die europäische Erfolgsgeschichte im Zeitalter der Globalisierung auf Dauer abzusichern? Das sind Themen, bei denen die Partner zuerst nach der Haltung der Franzosen und Deutschen fragen werden. Sie werden dabei mit uns nie zufrieden sein. Einigen wir uns, so sprechen sie gerne vom deutsch-französischen Diktat. Sind wir uneinig, so appellieren sie an unsere historische europäische Verantwortung.

Auch in den Krisen der letzten Jahre brauchte das deutsch-französische Tandem einen zu langen Anlauf. Letztlich hat sich die Vernunft durchgesetzt trotz latenten Misstrauens, häufiger Unkenntnis des Nachbarn, zu vieler Missverständnisse beiderseits, die letztlich kein Wunder sind angesichts politisch gänzlich unterschiedlicher Systeme - hier die zentralistische republikanische (oder Wahl-) Monarchie, dort die parlamentarische Demokratie eingebettet in einer föderalen Struktur. Präsident und Bundeskanzlerin mussten sich wie ihre Vorgänger erst einmal kennenlernen, einander verstehen, Verständnis für die Grenzen des anderen haben - und unter Druck stehen. Doch diesmal wird es für beide Seiten angesichts der Krise keine Schonfrist geben.

In der Krise

Die EU steckt mitten in einer Fülle innenpolitisch hochsensibler Fragen: Entwicklung des Binnenmarktes, Haushaltspolitik, Fiskalpolitik, Immigration, Außen- und Sicherheitspolitik.. Bereiche, in denen sich die Mitgliedstaaten, allen voran Frankreich und Deutschland, mit der Abgabe von Souveränität "an Brüssel" oder selbst der gemeinsamen Ausübung schwer tun. Bereiche, in denen die Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Verantwortung gegenüber dem Wähler und ihren Parlamenten das letzte Wort behalten wollen. Es sind dies aber zugleich Themen, in denen Europa nur eine Zukunft haben kann, wenn es in der Lage ist, seine Interessen geschlossen zu vertreten. Und dies noch mitten in einer längst nicht überstandenen Finanz- und Wirtschaftskrise, in der nicht nur jüngst die Zeitschrift "Economist" Frankreich als Land mit dem größten Risikopotenzial, ja als Epizentrum einer neuen Euro-Krise ansieht.

Es sind Fragen, in denen Deutsche und Franzosen auf unterschiedlichen Traditionen und Ansätzen aufbauen, in denen wir aber zumeist komplementär sind. Es sind Fragen, in denen die Franzosen gerne führen und sich die Deutschen damit schwer tun. Allzu lange hatte man ihnen erfolgreich erklärt, dass angesichts der Vergangenheit Zurückhaltung das beste Rezept sei. Nach der Einheit haben uns die gleichen Freunde gesagt, die Zeit der Ausreden sei vorbei, auch wir müssten Führung lernen, eine Eigenschaft, in der wir politisch nicht gerade für unsere Sensibilität und Stärke bekannt sind.

Helmut Kohls Beispiel

Deutsche und Franzosen sollten sich an die diskrete europäische Führungsrolle Helmut Kohls erinnern. Genauso wichtig ist es, in ihre Überlegungen wie deren Umsetzung die polnischen Nachbarn einzubeziehen. Frankreich, Deutschland und Polen bilden wie keine andere Gruppe von Ländern das Rückgrat der Europäischen Union. Und vor allem auch die kleineren Länder, wie die Benelux-Gruppe und auch andere Länder, sollten Teil dieser Führungsgruppe sein. Latentes Misstrauen und Unverständnis lassen sich nur durch systematische gegenseitige Information und Anhörung bereits im Vorfeld von Entscheidungen überwinden. So wie die Franzosen uns vor Jahren diskret über die geplante Abschaffung der Wehrpflicht oder die Wiederaufnahme der Nukleartests unterrichtet haben, so hätten die Deutschen zumindest ihre Nachbarn im Westen und Osten über die "Energiewende" vorab informieren sollen. Es wäre auch an der Zeit, Bilanz über das zu ziehen, was wir gemeinsam in Sachen Kultur und Bildung erreicht und nicht erreicht haben. Vielleicht haben wir hier - zum Beispiel in Bezug auf die Sprache - einiges zu lange schleifen lassen und brauchen dringend einen neuen Impuls, in erster Linie durch praktische, sichtbare Programme.

Vertrauen

Ich denke an die Parlamente, die beide mit der Schwierigkeit "Europa" und hoch komplexen Themen zu kämpfen haben und den Bürger kaum noch erreichen. Die Franzosen beklagen sich zum Beispiel in Bezug auf internationale Militäreinsätze über mehr Vorbehalte als Einsatz seitens der Deutschen und nicht zuletzt über die permanente Einbindung des Bundestages. Warum gehen sie nicht auf den Bundestag zu und bauen hier ein Vertrauensverhältnis auf? Liegt dies allein daran, dass die Assemblée nicht annähernd über vergleichbare Eingriffsbefugnisse verfügt? Vergessen sollte man nicht die Zusammenarbeit im grenznahen Raum, die nur zu langsam vorankommt. Und warum sollten wir nicht eine Reihe von besonderen gemeinsamen, weit reichenden Projekten ausarbeiten, in denen wir durch Integration und gemeinsame Ausübung von Souveränität einen Schritt weiter als Europa gehen und die Partner einladen, sich uns anzuschließen?

Utopie? Traum? Irreale Träumereien? Nein! Wir waren und sind füreinander schwierige Nachbarn, aber wir haben es geschafft, uns trotz der angeblichen Erbfeindschaft miteinander auszusöhnen, Partner zu werden, wir haben zusammen die größte Erfolgsgeschichte Europas ermöglicht und gefördert. Und stehen jetzt in der gemeinsamen Verantwortung, diese langfristig abzusichern und damit die tiefe Krise des Vertrauens zwischen Politik und Bevölkerung, Politik und Wirtschaft zu beenden.

Der Autor (63) hat an der École Nationale d´Aministration in Paris studiert. Er war lange außen- und sicherheitspolitischer Berater von Kanzler Helmut Kohl und dann deutscher Botschafter bei der Nato und in Spanien. Seit 2003 ist Bitterlich Spitzenmanager beim französischen Mischkonzern Veolia in Paris.