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Morden im toten Winkel

RECHTER TERROR Der Staat hat nicht bewusst weggeschaut, aber es fehlte an analytischer Phantasie

16.07.2012
2023-08-30T12:17:35.7200Z
5 Min

Die Erkenntnis traf Öffentlichkeit und Staat wie ein Schock: Im November 2011 wurde bekannt, dass eine kleine Zelle von drei Neonazis 13 Jahre im Untergrund agiert und in dieser Zeit mindestens zehn Menschen ermordet hatte. Den Sicherheitsbehörden waren Existenz und Taten der Gruppe, die sich "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) nannte, verborgen geblieben. In den einschlägigen Berichten und Stellungnahmen hatte es bislang immer geheißen, in der Bundesrepublik Deutschland bestünden keine rechtsterroristischen Strukturen. Nachdem die NSU-Serienmorde diese Einschätzung widerlegt hatte, kam in der öffentlichen Diskussion von verschiedenen Seiten ein altbekannter Vorwurf auf: "Der Staat ist auf dem rechten Auge blind!"

In der Tat hatten die Sicherheitsbehörden die Ermordung von neun Menschen mit Migrationshintergrund auf kriminelle und nicht auf rechtsextremistische Motive zurückgeführt. Doch wie angemessen ist die Aussage in einem allgemeinen Sinn und bezogen auf die NSU-Morde? Nimmt man die doch sehr pauschal formulierte Einschätzung wörtlich, so kann sie keine Gültigkeit beanspruchen. Letztendlich meint "auf dem rechten Auge blind", dass der Staat die Entwicklungen im Rechtsextremismus überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt oder nicht nehmen will. Doch allein ein Blick in die jährlich erscheinenden Verfassungsschutzberichte steht für das erklärte Gegenteil. Man findet dort Darstellungen und Einschätzungen, welche die jeweils aktuelle Entwicklung in den unterschiedlichsten Bereichen dieses politischen Lagers behandeln. So veranschaulichen etwa die präsentierten Daten ein seit Jahren kontinuierliches Anwachsen der Neonazi-Szene. Mittlerweile verfügt sie über fast 6.000 Anhänger und damit über mehr als das dreifache Personenpotenzial von Anfang der 1990er Jahre.

Zwar ignorierten Medien und Politik diese Entwicklung nicht, thematisierten sie öffentlich aber nur anlassbezogen. Von einer Blindheit oder Ignoranz des Staates gegenüber dem Rechtsextremismus kann in einem so pauschalen Sinne allein von daher schon nicht gesprochen werden.

Darüber hinaus ist der Staat in vielfältiger Weise ein bedeutender Akteur bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus: Eine ganze Reihe von Nichtregierungsorganisationen erhält für ihre Arbeit gegen Rechtsextremismus finanzielle Unterstützung, was bezogen auf das relativ hohe Maß in dieser Form aus anderen Ländern nicht bekannt ist. Darüber hinaus sah sich die neonazistische Szene seit Beginn der 1990er Jahre einer Verbotswelle ausgesetzt, wovon über 30 Organisationen auf Bundes- und Landesebene betroffen waren. Man mag mit guten Gründen dagegen einwenden, dass ein solches Vorgehen eine eindimensionale Fixierung auf Repression aufweist und den quantitativen Anstieg der Neonazi-Szene nicht stoppen konnte. Indessen ist auch hier der Vorwurf von "Blindheit" oder "Inaktivität" des Staates nicht angemessen. Allein schon die besondere politische Sensibilität des Themas, die sich auch mit dem Blick ins Ausland mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands erklärt, motivierte und motiviert das einschlägige staatliche Handeln gegen den Rechtsextremismus.

Neue Dimension

Spricht aber nicht gerade die Existenz einer Neonazi-Zelle, die über ein Jahrzehnt lang ohne Kenntnisse der Sicherheitsbehörden aus dem Untergrund heraus morden konnte, für die Auffassung von der "Blindheit" des Staates? Diese Einschätzung ignoriert die Besonderheit und Singularität des NSU. Entgegen der Auffassung des Politikwissenschaftlers Fabian Virchow "Nichts davon ist neu" stehen deren Taten für eine neue Dimension in der Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland: Die kontinuierlich geplante und gezielte Ermordung von Menschen aus einer Situation von Angesicht zu Angesicht über einen Zeitraum von sieben Jahren hinaus gab es zuvor ebenso wenig wie ein öffentliches Schweigen auch angesichts einer falschen Zuordnung der Taten durch die Polizeibehörden als kriminell motiviert. Im Rückblick bemerkte die Fach-Journalistin Andrea Röpke daher treffend: "Dennoch hat wohl niemand mit so einer eiskalt kalkulierten Mordserie gerechnet." Dies gilt für Antifa-Gruppen und Medien ebenso wie für Politik und Wissenschaft.

Angesichts der Spezifika der NSU-Taten muss die Frage nach Fehlern und Versagen der Sicherheitsbehörden differenzierter erörtert werden. Ohnehin kann man wohl erst nach den Abschlussberichten der verschiedenen Untersuchungskommissionen genauer einschätzen, ob es sich mehr um individuelle Fehler einzelner Personen, grundlegende Mängel in der Struktur oder schlechte Kooperation der Sicherheitsbehörden handelte. Bereits jetzt lässt sich aber einer Einschätzung des Journalisten Hans Leyendecker zustimmen, bemerkte er doch: "Es fehlte nicht an gutem Willen und auch nicht an Einsatzbereitschaft - es fehlte an analytischem Vermögen und an Phantasie." In der Tat war man den drei Angehörigen der Neonazi-Zelle - Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt - dicht auf der Spur und stand mehrmals kurz vor einem Erfolg. Dabei wurden aber untergetauchte Rechtsextremisten gesucht. Mit den von ihnen begangenen Morde brachten die Sicherheitsbehörden sie nicht in Verbindung. Nachdem ihre bekannten Taten wie illegaler Sprengstoff- und Waffenbesitz verjährt waren, stellte man die Fahndung denn auch fast gänzlich ein.

Denken in Szenarien

Bezogen auf das konstatierte Fehlen von Analyse und Phantasie müssen sich die Sicherheitsbehörden in diesem Fall aber durchaus Kritik gefallen lassen: Mit "Phantasie" ist nicht das substanzlose und willkürliche Spekulieren gemeint. Es geht vielmehr um ein Denken in Szenarien, das bestimmte mögliche Entwicklungen als anschließend überprüfbare Hypothesen formuliert. Außerdem bedarf es eines Primats der Analyse und nicht der Verwaltung von Informationen über den Extremismus. So kann etwa der Blick auf die Entwicklungen im islamistischen oder linken Terrorismus im In- und Ausland sehr wohl den Blick auf die Gefahren eines Rechtsterrorismus schärfen. Die erwähnten Fehleinschätzungen, wonach es keine Strukturen in diesem Bereich gebe, orientierten sich häufig an einem Terrorismusverständnis im Sinne der "Rote Armee Fraktion" (RAF). Hiervon zeugt auch die Rede von einer "Braunen RAF" in den Medien.

Neue Konzepte

Bei der RAF handelte es sich um eine relativ hierarchisch aufgebaute und personell starke terroristische Organisation. Demgegenüber bildete sich mit den "Revolutionären Zellen" bereits in den 1970er Jahren und mit "Al Qaida" nach dem 11. September 2001 autonom agierende Kleingruppen ohne hierarchischen Aufbau und zentrale Steuerung heraus. Im US-amerikanischen Rechtsextremismus entstand bereits in den 1990er Jahren das Modell des "Leaderless Resistance", des "führerlosen Widerstandes", was ebenfalls vom Agieren kleiner Gruppen ohne Anleitung durch eine Führerfigur oder Kommandostruktur ausging. Die Kenntnis dieser Entwicklungen ermöglicht in der analytisch-vergleichenden Betrachtung die Herausarbeitung eines Analyserasters, das die Entstehung neuer Gefahren eben auch im deutschen Rechtsextremismus im Sinne eines "Frühwarnsystems" erkennbar macht. Im Fehlen einer solchen Perspektive und Struktur dürften eher die Fehler der Sicherheitsbehörden zu sehen sein. Die Rede von der "Blindheit des Staates gegenüber dem Rechtsextremismus" ignoriert mit Pauschalität und Unterstellungen diese Dimension des Problems.

Kann aber von einer stärkeren Aufmerksamkeit für eine Bedrohung von "links" und von einer geringeren Beachtung für eine Gefahr von "rechts" gesprochen werden? Politische Kommentatoren legten dies nahe, habe der Staat doch alle nur erdenklichen Mittel zur Bekämpfung der RAF aufgeboten, was eben gegenüber dem NSU nicht geschehen sei. Diese Argumentation verkennt, dass im Fall der RAF deren Anschläge wegen ihrer öffentlichen und bewussten Bekenntnisse eindeutig zurechenbar waren, während im Fall des NSU die Morde ohne öffentliche Erklärungen aus dem Verborgenen heraus erfolgten. Insofern lassen sich schon rein formal die jeweiligen Reaktionen nicht miteinander vergleichen, standen doch die Taten für ganz unterschiedliche Vorgehensweisen.

Auch die Entwicklung der Organisationsverbote bestätigt die Deutung nicht, fand das letzte Verbot einer deutschen linksextremistischen Organisation doch Anfang der 1970er Jahre statt. Insofern sollte die Auffassung von einer "Blindheit des Staates gegen rechts" einer differenzierten Sicht der Dinge weichen.

Der Politikwissenschaftler und Soziologe Professor Armin Pfahl-Traughber lehrt an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl mit den Themenschwerpunkten "Politischer Extremismus" und "Politische Ideengeschichte".