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"Wir sind Europa"

Deutsche EInheit Der Bundestagspräsident warnt beim Festakt vor einem Rückfall in die Rivalität von Nationalstaaten

08.10.2012
2023-08-30T12:17:39.7200Z
6 Min

Mit seiner angedrohten Klage gegen den Länderfinanzausgleich sorgt Horst Seehofer (CSU) eher für Unruhe und aufgeregte Diskussionen über die Solidarität unter den 16 Bundesländern. Aber zum Tag der Deutschen Einheit wollte sich der bayerische Ministerpräsident doch als großzügiger Gastgeber zeigen. Er wollte den Tag als großes Bürgerfest feiern, "ohne Jammern und Nölen", sondern freudig und "stolz darauf, was in den 22 Jahren nach der Wiedervereinigung geleistet wurde", sagte Seehofer in München.

Die Vereinigung als Erfolgsgeschichte -diesen Gedanken nahm Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) als Hauptredner beim offiziellen Festakt am 3. Oktober in München zum Anlass, um in Zeiten wachsender Europaskepsis die "europäische Dimension" der Einheit zu unterstreichen.

Weil der bayerische Ministerpräsident in diesem Jahr amtierender Bundesratspräsident ist, war es am Freistaat, die zentrale Feier zum Tag der Einheit auszurichten. Man ließ auffahren, was das Bayernbild gemeinhin prägt: Trachtengruppen, Blasmusik und Gebirgsschützen aus Wolfratshausen, die Bundespräsident Joachim Gauck, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Bundestagspräsident Norbert Lammert, den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle, den Ministerpräsidenten und die über 1.000 Ehrengäste quer durch die Münchner Innenstadt zum Festakt im Nationaltheater begleiteten.

Dort spielte das Bayerische Staatsorchester unter Leitung von Kent Nagano die Europahymne, Beethovens "Ode an die Freude", sogar noch vor dem Bayernlied und der Nationalhymne. Dennoch war die Feier in München eine selbstbewusste und freundliche Demonstration von Bodenständigkeit und föderalistischem Selbstsicherheit, deren routinierte Beherrschung den Repräsentanten des Freistaats oft zugeschrieben wird.

Erfolgsgeschichte

Norbert Lammert wusste die Darstellung regionaler Identität zu würdigen: "Heimat ist überall, aber überall anders, und hier ganz besonders." Lammert sah in der landsmannschaftlichen Selbstdarstellung auch einen Ansatz für das Leitmotiv seiner Rede: "Gemeinsam sind wir stärker!"

In den Ländern gebe es beachtliche Talente und großen Tatendrang. Aber zusammen seien sie mehr als jedes für sich allein, "erst zusammen bilden sie Deutschland". Das Zusammenwachsen der 16 Bundesländer in den vergangenen 22 Jahren ist für den Bundestagspräsidenten eine Erfolgsgeschichte, die "auch eine Botschaft für Europa" sei. Mit dem Satz "Wir sind Europa" zu Beginn seiner Rede gab Lammert der Einheitsfeier eine Richtung, weg von historischen Rückblicken hin zu einem aktuellen politischen Einigungsprozess, der für Deutschland ebenso einschneidend und existenziell sein kann, wie die Wiedervereinigung, die 1990 im Einheitsvertrag besiegelt wurde.

Der Bundestagspräsident zitierte das Manifest, das der Soziologe Ulrich Beck und der grüne Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit Anfang des Jahres initiierten und das zahlreiche Unterstützer aus Politik, Wirtschaft und Kultur fand. Das Motto "Wir sind Europa" knüpft dabei bewusst an den Ruf der Bürgerrechtsbewegung der ehemaligen DDR an.

In diesem Sinne zog Lammert Parallelen zur Entwicklung der EU. "Ohne die Überwindung der Spaltung Europas wäre die deutsche Einheit nicht möglich gewesen. Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit unseres Landes war umgekehrt Voraussetzung für das Zusammenwachsen Europas in einer Union west-, mittel- und osteuropäischer Staaten." Deutschland und Europa seien längst keine Gegensätze mehr, sondern zwei Betrachtungen des gleichen Sachverhalts.

Souveränität

Denn das wiedervereinte Deutschland und die Europäische Union basierten auf derselben Idee, "einer Vorstellung vom Menschen und seiner Würde und seiner Freiheit und seines Anspruchs auf Selbstbestimmung". Gleichzeitig sei die Europäische Gemeinschaft ein einzigartiger Prozess, bei dem nationale Souveränitätsrechte abgegeben werden, mit dem Ziel, die Souveränität zu wahren. Ein solches Projekt berge natürlich Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten, wie jede Neuentwicklung. "Wir bauen sozusagen den Prototyp", sagte Lammert.

Ein realistische oder gar Erfolg versprechende Alternative zur Europäischen Union sieht der CDU-Politiker nicht. Die Entscheidung für Europa sei "getragen von der Einsicht, dass in der Welt von heute nationale Souveränität an den Realitäten scheitern muss". Unter den Kräfteverhältnissen der Globalisierung stoße nationales Handeln politisch wie ökonomisch an seine Grenzen.

Auch hier gilt für Lammert: Gemeinsam sind wir stärker. "Wir tauschen zunehmend nationale Souveränität, die unter gründlich veränderten Kräfteverhältnissen politisch wie ökonomisch verlorengeht, gegen den Selbstbehauptungswillen einer Staatengemeinschaft, die gemeinsam die Kraft entfalten kann und entfalten soll, zu der die Nationalstaaten allein nicht mehr, jedenfalls nicht mehr in der gewohnten und gewünschten Weise in der Lage sind." Und deswegen sei er der Überzeugung, dass die Weiterentwicklung Europas im tiefsten deutschen Interesse sei.

Europäische Werte

Heute würden vor allem die Fragen ums Geld und die Stabilität des Euro die öffentliche Wahrnehmung beherrschen. Aber genauso wenig wie die D-Mark Deutschland war, genauso wenig sei der Euro Europa, sagte Lammert. Die Währung sei ein wesentliches, unverzichtbares Mittel zur Integration, aber nicht der Kern, nicht die Überzeugungen und gemeinsamen Werte. Weil zu diesen Werten auch die Solidarität gehört, appellierte Lammert, diese Solidarität in der Schuldenkrise an den Tag zu legen - auch aus der deutschen Erfahrung heraus. Der Bundestagspräsident erinnerte daran, zu welcher - auch finanziellen - Solidaritätsleistung die Deutschen nach der Wiedervereinigung 1990 fähig waren.

Allerdings müsste im Gegenzug auch die Solidität bei allen Beteiligten sicher gestellt sein, sagte Lammert - ohne die überschuldeten Nationen in der Europäischen Union beim Namen zu nennen. Dass diese Solidität mitunter fehlt, der Bundestagspräsident nicht auf einen Konstruktionsfehler der Union zurück, sondern auf ein Vollzugsproblem: "Hätten sich die Mitgliedstaaten immer an geltendes Recht gehalten, gäbe es die europäische Krise nicht. Deshalb muss das Recht, die Einhaltung gesetzlicher und vertraglicher Verpflichtungen wieder Vorrang vor ökonomischen Kalkülen haben", forderte der Bundestagspräsident. Es sei im Umgang mit den derzeitigen Herausforderungen allemal eher hinzunehmen, dass die Erwartungen der Märkte durch unsere Rechtsordnung und unsere demokratischen Verfahren enttäuscht würden, als dass umgekehrt die Erwartungen an unsere Rechtsordnung durch eine Verselbstständigung der Finanzmärkte leerlaufen würden, betonte Lammert. "Für die Bürger muss nachvollziehbar und transparent bleiben, was und warum etwas geschieht." Auch deshalb sei es wichtig, dass die nationalen Parlamente bei der Bewältigung der Krise ihre verfassungsmäßigen Aufgaben wahrnehmen, sagte Lammert.

Lob für Kretschmann

Der Appell zu mehr Solidarität bei der Münchner Einheitsfeier war nicht ohne Reiz. Schließlich kommen in der aktuellen europapolitischen Diskussion die gelegentlich schärfsten und skeptischsten Töne aus dem Freistaat. Schon beim ökumenischen Festgottesdienst zum Tag der Deutschen Einheit hatte Münchens Kardinal Reinhard Marx vor Rückfällen in Populismus und nationale Egoismen gewarnt. Vor allem CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt und Bayerns Finanzminister Markus Söder (CSU) hatten sich in den vergangenen Wochen und Monaten mit Seitenhieben auf Griechenland oder die Europäische Zentralbank hervorgetan, während CSU-Vorsitzender Seehofer danach stets betonte, dass seine Partei die Euro-Politik der Bundeskanzlerin unterstütze. Lammert wies in seiner Rede darauf hin, dass die mitunter unpopulären Entscheidungen zur Eurorettung "regelmäßig mit breiter Mehrheit über die Fraktionsgrenzen hinweg beschlossen worden sind".

Mit Rücksicht auf den feierlichen Rahmen des deutschen Nationalfeiertages verzichtete der bayerische Ministerpräsident auf tagespolitische Äußerungen. Sogar für einen Spitzenpolitiker der Grünen fand Seehofer nur lobende Worte: Winfried Kretschmann, Ministerpräsident des Nachbarlandes Baden-Württemberg, mache seine Sache so gut, dass er "einer von uns sein könnte", sagte Seehofer. Der Bayer hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sein Kollege aus dem Südwest-Staat der Klage gegen den Länderfinanzausgleich beitritt. Denn auch Baden-Württemberg gehört wie Bayern zu den Geberländern.

Kretschmann bekam bei der Einheitsfeier in München von Seehofer symbolisch den Schlüssel für den Bundesrat überreicht. Der Baden-Württemberger wird als erster Grünen-Politiker im November turnusgemäß den Vorsitz im Bundesrat übernehmen.