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Mit Zählen ist es nicht getan: Wie aus Stimmen Sitze werden

WAHLRECHT Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 2012 haben sich die Fraktionen im Bundestag auf eine Reform verständigt. Mit den…

17.12.2012
2023-09-22T16:02:49.7200Z
8 Min

Worum geht es, wenn im Bundestag über eine Änderung des Wahlrechts diskutiert wird? Wer hat hier welche Karten im Spiel? Wie frei ist der Gesetzgeber bei der Gestaltung des Wahlrechts? Welche Auswirkungen haben Änderungen im Wahlrecht für die Wähler, für die Parteien, für den Bundestag und für die Demokratie? Solche Fragen beschäftigen nicht nur Wahlrechtsexperten, sondern treiben auch den Wähler um. "Das Parlament" greift einige dieser Fragen auf, um sie in möglichst verständlicher Form zu beantworten.

Was sagt das Grundgesetz

zum Wahlrecht?

Das Grundgesetz ist in Bezug auf das Wahlrecht recht wortkarg. Artikel 38 formuliert dazu lediglich Folgendes: "Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt." Damit haben zwar die fünf klassischen Wahlrechtsgrundsätze Verfassungsrang. Was jeder einzelne Grundsatz für die Praxis bedeutet, dazu gibt das Grundgesetz jedoch keine weiteren Hinweise. Allerdings hat sich das Bundeswahlgesetz, das gemäß Artikel 38 Absatz 3 "das Nähere bestimmt", an diesen Grundsätzen zu orientieren. Im Zweifel entscheidet darüber das Bundesverfassungsgericht. Dessen zahlreiche einschlägige Urteile stellen eine ergiebige Quelle für die verfassungsrechtliche Beurteilung des Wahlrechts dar.

Gestaltungsfreiheit

Das Karlsruher Gericht hat immer wieder betont, dass das Grundgesetz dem Gesetzgeber eine große Gestaltungsfreiheit bezüglich des Wahlsystems lässt. So könnte sowohl ein Mehrheits- als auch ein Verhältniswahlsystem mit den Wahlrechtsgrundsätzen vereinbar sein. Allerdings verlangt das Gericht vom Gesetzgeber auch, einer einmal getroffenen Grundsatzentscheidung treu zu bleiben und das Wahlsystem in seinen Einzelheiten folgerichtig auszugestalten. In ihrem neuesten Urteil zu dieser Materie haben die Richter im Juli 2012 festgestellt, dass Überhangmandate, die nicht ausgeglichen werden, den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl beeinträchtigen können, sofern ihre Zahl nicht begrenzt wird. Als akzeptable Grenze hat das Gericht "etwa eine halbe Fraktionsstärke" - dies sind zurzeit 15 Sitze - genannt.

Warum gibt es

jetzt ein neues Wahlrecht?

Das Bundestagswahlrecht ist in seinen wesentlichen Elementen seit dem Jahr 1957 unverändert geblieben. Zwar sind einige Details wiederholt neu justiert worden. So wurde das Sitzzuteilungsverfahren im Jahr 1985 vom Verfahren D'Hondt auf Hare/Niemeyer sowie im Jahr 2008 auf das Verfahren nach Sainte-Laguë/Schepers umgestellt. Die Kombination aus Erst- und Zweitstimme sowie das Prinzip der zweistufigen Auswertung und Sitzzuteilung über verbundene Landeslisten - inklusive des möglichen Entstehens von Überhängen - blieben jedoch über fünf Jahrzehnte hin unverändert. Das gilt auch für die negativen Stimmgewichte, die ebenfalls seit 1957 möglich sind. Dass sie erst nach der Wiedervereinigung diagnostiziert und erst nach der Jahrtausendwende auch öffentlich problematisiert worden sind, ist nicht auf Änderungen

im Wahlrecht, sondern auf den Fortschritt der Computertechnik und die damit einhergehende Vereinfachung komplexer Berechnungen zurückzuführen. Gleichzeitig hat sich die Zahl der angefallenen Überhänge seit der Wiedervereinigung vergrößert und verstetigt. Dies ist nicht zuletzt auf die gestiegene Zahl der Parteien zurückzuführen.

Karslruher Entscheidungen

In zwei einschlägigen Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht zu den jüngeren Entwicklungen Stellung genommen und Vorgaben für eine Änderung des Sitzzuteilungsverfahrens gemacht. Im Juli 2008 hat das Gericht entschieden, dass negative Stimmgewichte unzulässig sind. Das Urteil des Gerichts vom Juli 2012 hat diese Position noch einmal bekräftigt und zudem die im Bundeswahlgesetz 2011 vorgenommenen Änderungen im Wahlrecht für nicht ausreichend erklärt. Zudem haben die Richter eine absolute Grenze für die maximal hinnehmbare Anzahl von ausgleichslosen Überhangmandaten gezogen. Dadurch war der Gesetzgeber gezwungen, das Wahlrecht noch vor der anstehenden Bundestagswahl 2013 an diese Vorgaben anzupassen.

Was ist am neuen Wahlrecht wirklich neu?

Auch in dem neuen Wahlrecht kann es weiterhin vorkommen, dass eine Partei in einem Land mehr Wahlkreise und damit Parlamentssitze direkt gewinnt, als ihr dort gemäß ihrem Anteil an den Zweitstimmen zustehen würden. In solchen Fällen bleibt der Vorteil der betreffenden Partei aber nicht mehr erhalten. Vielmehr bekommen alle anderen Parteien im Gegenzug so viele zusätzliche Sitze zugeteilt, dass der Vorteil ausgeglichen ist und die Sitzzahlverhältnisse zwischen den Parteien wieder genau den Zweitstimmenzahlen entsprechen.

Wie viele Zusatzmandate erforderlich sind, bis dieser Ausgleich erreicht ist, hängt von der Anzahl wie auch von der Verteilung der anfänglichen Überhänge ab. Bei der letzten Bundestagswahl im Jahr 2009 haben CDU und CSU insgesamt 24 Überhangmandate erzielt. Um diese auszugleichen, wären nach dem neuen Wahlrecht etwa 50 Ausgleichsmandate für die anderen Parteien notwendig.

Ausgleichshebel

Wenn hingegen SPD und CDU in etwa gleich viele Überhangmandate hätten, wie dies zum Beispiel bei der Bundestagswahl 2005 der Fall war, dann würden sich ihre Überhänge zu einem Großteil gegenseitig ausgleichen. Folglich würde auch nur eine geringe Zahl von Ausgleichsmandaten für die kleineren Parteien anfallen. Besonders hoch ist der Ausgleichsbedarf demnach immer dann, wenn Überhänge konzentriert bei einer einzelnen, kleinen Partei auftreten. Der sogenannte Ausgleichs-Hebel ist daher typischerweise bei der CSU am längsten. Erringt eine Partei zum Beispiel ein Fünfzehntel der bundesweit zu berücksichtigenden Zweitstimmen, dann muss der Bundestag pro Überhangmandat dieser Partei insgesamt um etwa 15 Sitze anwachsen, damit der Ausgleich für die anderen Parteien erreicht wird.

Gibt es Gewinner oder Verlierer, wenn das neue Wahlrecht gilt?

Als das Bundesverfassungsgericht im Juli 2012 sein Urteil zum neuen Wahlrecht verkündet hatte, schien es auf allen Seiten nur Gewinner der Entscheidung zu geben. Über weite Strecken hat das Gericht sehr diplomatische Formulierungen gewählt und dadurch dem Gesetzgeber große Freiräume belassen. An einem entscheidenden Punkt fiel das Urteil jedoch völlig klar aus: Es verstößt "gegen die Grundsätze der Gleichheit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien" und damit gegen das Grundgesetz, wenn das Wahlrecht "das ausgleichslose Anfallen von Überhangmandaten in einem Umfang zulässt, der den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufhebt", führte das Gericht aus. Außerdem dürfe es kein negatives Stimmengewicht geben, weil der Wähler sonst nicht mehr erkennen könne, wie sich seine Stimmabgabe auf den Erfolg oder Misserfolg der Parteien auswirkt.

Kompromiss

Diese Haltung zu den Überhangmandaten und zum negativen Stimmengewicht hatten auch die SPD und Bündnis 90/Die Grünen in ihren Klageschriften vertreten. Insofern erscheinen die Oppositionsparteien auf den ersten Blick als die Gewinner der Gerichtsentscheidung. Aber auch die Union kann sich als Gewinnerin fühlen. Denn sie hatte den Standpunkt vertreten, dass Überhangmandate mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Das Gericht hat diese Auffassung nicht vollständig verworfen, sondern lediglich eine Höchstgrenze gezogen, bis zu der Überhangmandate noch mit dem Grundgesetz vereinbar wären.

Die Fraktionen haben sich nun gleichwohl darauf geeinigt, dass Überhangmandate ausnahmslos ausgeglichen werden sollen. Betrachtet man nur diese Bestimmung, dann hätte sich die Opposition im Gesetzgebungsverfahren mit ihren Vorstellungen durchgesetzt. In vielen anderen Punkten entspricht das neue Wahlrecht jedoch den Vorstellungen der Union, wie sie sie bei der letzten Reform im Jahre 2011 vertreten hatte. Dazu zählen die Abschaffung der bisherigen Listenverbindungen und die Einführung neuartiger Sitzkontingente für die Länder - beides zielt auf die Vermeidung negativer Stimmgewichte. Am Ende gehört aber auch die FDP zu den Gewinnern, denn sie hat ihre Ziele ebenfalls erreicht: Dies sind die Chancengleichheit für große und kleine Parteien und eine gesicherte Verwertung aller Stimmen auf Bundesebene, selbst wenn sie für einen einzelnen Landesverband vor Ort nicht mehr für einen Sitzgewinn ausreichen (Vermeidung erhöhter "natürlicher Sperrklauseln").

Kein Vorteil durch Überhang

Das neue Wahlrecht kennt also zunächst einmal nur Gewinner. Wenn sich die Zahl der Abgeordneten insgesamt erhöht, wird jede der Parteien auch mehr Abgeordnete stellen, als dies - bei gleicher Stimmenzahl - nach dem alten Wahlrecht der Fall gewesen wäre. Einen relativen Vorteil durch Überhänge kann allerdings künftig keine Partei mehr erzielen. Wenn künftig Überhangmandate bei einer Partei entstehen sollten, dann würde dieser Vorteil durch Ausgleichsmandate für die anderen Parteien ausgeglichen.

Was bedeutet das neue Wahlrecht für die Demokratie?

Eine der Auswirkungen des neuen Wahlrechts besteht darin, dass die Zahl der Bundestagsabgeordneten wahrscheinlich zunehmen wird. Im Bundestag könnte dies die parlamentarische Arbeit erschweren. Aufgrund der höheren Zahl von Abgeordneten könnte es zeitaufwändiger und schwieriger werden, Einvernehmen in und auch zwischen den Bundestags-Fraktionen herzustellen. Dies gilt sowohl für Verfahrensfragen wie die Einigung im Ältestenrat über die Verteilung der Redezeit im Plenum als auc für die Mehrheitsbildung in den Regierungsfraktionen. Für das Verhältnis zwischen dem einzelnen Wähler und seinem Abgeordneten hat die Zunahme der Abgeordnetenzahl hingegen eher positive Auswirkungen. Denn die Zahl der von jedem einzelnen Mandatsträger repräsentierten Wähler wäre nun kleiner als früher. Damit würden die Chancen des einzelnen Wählers steigen, Kontakt zu seinem Wahlkreisabgeordneten zu bekommen und mit seinen Anliegen bei ihm Gehör zu finden. Umgekehrt wird der Abgeordnete in die Lage versetzt, seinen Wahlkreis intensiver zu betreuen.

Generell wird durch die Neuregelungen das gemischte Wahlsystem dem reinen Verhältniswahlrecht ähnlicher. Dieses gilt aber in Bezug auf die Mandatsverteilung als besonders gerecht, weil es sehr direkt die Stimmenverteilung abbildet. Wenn sich der Wählerwille ziemlich genau in der Sitzverteilung widerspiegelt, dann wird dadurch auch dem demokratischen Grundprinzip, wonach jede Wählerstimme das gleiche Gewicht haben sollte - "one man - one vote" -, noch stärker als bisher entsprochen. Die Wähler könnten sich dadurch vom Bundestag noch besser repräsentiert fühlen. Das neue Wahlrecht kann zudem der jeweiligen Regierungsmehrheit eine höhere Legitimation verschaffen. Denn durch den Ausgleich der Überhangmandate entspricht die Regierungsmehrheit immer auch der Wählermehrheit.

Kann der Wähler

ein Wahlergebnis

anfechten?

Bei Zweifeln an der Gültigkeit einer Bundestagswahl kann jeder Wahlberechtigte innerhalb von zwei Monaten Einspruch beim Bundestag einlegen. Wenn ein Bürger mit der Entscheidung des Bundestages nicht einverstanden ist, hat er die Möglichkeit, sich mit einer Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht zu wenden. Gegen die Bundestagswahl 2009 wurden 163 Einsprüche eingelegt, die vom Bundestag alle zurückgewiesen wurden. Dies liegt daran, dass die Wahl nur dann für ungültig erklärt wird, wenn Fehler bei der Vorbereitung oder Durchführung der Wahl geschehen sind, die Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments hatten. Stellt sich hingegen heraus, dass das subjektive Wahlrecht eines Wahlberechtigten verletzt wurde, ohne dass sich dies auf die Sitzverteilung im Bundestag ausgewirkt hat, wird der Bundestag die Rechtsverletzung in Zukunft ausdrücklich feststellen. Dies ergibt sich aus einer Gesetzesänderung im Juli 2012, die Rechtsschutzlücken im Wahlrecht schließt. Durch sie wurde auch der Rechtsschutz für nicht als Partei anerkannte politische Vereinigungen im Vorfeld der Wahl verbessert und die Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht durch Verzicht auf das Erfordernis des Beitritts von 100 Wahlberechtigten erleichtert.

Zum Weiterlesen:

Joachim Behnke: Grundsätzliches zur Wahlreformdebatte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 4/2011

Hans Meyer: Die Zukunft des Bundestagswahlrechts: Zwischen Unverstand, obiter dicta, Interessenkalkül und Verfassungsverstoß, Baden-Baden 2010

Dieter Nohlen: Wahlrecht und Parteiensystem, 6. Auflage, Opladen 2009

Volker von Prittwitz: Hat Deutschland ein demokratisches Wahlsystem?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 4/2011