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Wenn Spuren versanden

NSU-AUSSCHUSS Adressenlisten hätten die Behörden wahrscheinlich auf die richtige Spur bringen können

04.03.2013
2023-08-30T12:23:55.7200Z
4 Min

Haben wir jetzt auch noch eine vierte Liste?", fragte irgendwann während des Hin und Her über die Zahl, die Fundorte sowie die Zeit von Entdeckung und Auswertung der "Garagenlisten" Unions-Obmann Clemens Binninger (CDU) irritiert. Selbst die Profis des Untersuchungsausschusses, der Fehlgriffe bei den Ermittlungen zu der dem "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) angelasteten Mordserie durchleuchten soll, konnten vergangene Woche schon mal den Durchblick verlieren: Der verwirrende Umgang der Polizei mit jenen Adressenlisten über die rechtsextreme Szene, die im Januar 1998 aufgetaucht waren, gibt Rätsel auf.

Lange Zeit war von nur einer Aufstellung mit Kontaktdaten aus Thüringen und anderen Ländern die Rede, jüngst dann von zwei Listen und neuerdings noch von einer dritten Aufzeichnung. Alles war der Polizei bei der Durchsuchung von Garagen in die Hände gefallen, die das Jenaer Trio vor seinem Untertauchen und seinem Wandel zum NSU genutzt hatte. Auf der Basis von Aktenstudium, Informationen des Innenministeriums und des Bundeskriminalamts (BKA) sowie einer Gegenüberstellung der 1998 mit der Prüfung der Garagen-Asservate befassten Ermittler Michael Brümmendorf vom BKA und Jürgen Dressler vom Erfurter Landeskriminalamt (LKA) hat sich im Ausschuss ein kompliziertes Bild herauskristallisiert. In einem Karton lagen ein zweiseitiger Computerausdruck mit einigen Ergänzungen und ein handschriftliches Papier. In einer Plastiktüte verbarg sich eine dritte, der ersten Aufstellung ähnlichen, aber um weitere Adressen angereicherten Liste. Letztere war freilich weder Dressler noch Brümmendorf bekannt, jedoch irgendwann im Besitz von BKA und Bundesanwaltschaft und wurde erst im Januar 2012 ausgewertet - wovon die Abgeordneten kürzlich erfuhren.

Warum schlägt sich der Ausschuss mit solch kriminalistischen Feinheiten herum? Nun, die "Garagenlisten" markieren einen neuralgischen Aspekt der NSU-Affäre: Die Parlamentarier sind überzeugt, dass diese Unterlagen mit hoher Wahrscheinlichkeit den Weg zu den Aufenthaltsorten der Zelle hätten weisen können -und dass dann neun türkisch- oder griechischstämmige Kleinunternehmer und eine Polizistin gar nicht ermordet worden wären. Grünen-Obmann Wolfgang Wieland befand, die Listen wären ein "Sechser im Lotto" gewesen, Binninger wertete sie als eine "Blaupause für eine erfolgreiche Fahndung". Doch die Daten blieben unbeachtet, was der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy (SPD) als "unverzeihliches Versäumnis" und FDP-Sprecher Hartfrid Wolff als "eine der schlimmsten Pannen der Polizeiarbeit" kritisierten.

BKA und LKA schieben sich gegenseitig die Verantwortung für das Desaster zu, ein "Schwarzer-Peter-Spiel", dessen Ende SPD-Obfrau Eva Högl forderte. Die Gegenüberstellung von Dressler und Brümmendorf sollte Klarheit schaffen. Fazit: Irgendwie verloren die Ermittler bei der Analyse der Asservate die heißeste Spur aus den Augen.

Handynummer nicht gekannt

Brümmendorf will nach dem Blick auf die Karton-Listen Dressler sofort angesprochen haben, das sei seine "feste Erinnerung": Man sei übereingekommen, dass sich der LKA-Ermittler, mit dem rechtsextremen Milieu im Umfeld des Trios besser vertraut, um die Nutzung der Adressen für die Fahndung kümmern werde. Dressler konterte, er könne sich an den Sachverhalt "in dieser Form nicht erinnern". Er wusste auch nicht zu sagen, was beim LKA aus den Listen wurde. Dessen Zielfahnder Sven Wunderlich erhielt diese Papiere jedenfalls nicht. Binninger lobte Brümmendorf, weil der damals sogar konkret auf zwei Namen aus den Listen hingewiesen habe, die "ins Schwarze geführt hätten". Doch der CDU-Sprecher warf dem BKA-Ermittler auch vor, diesen Hinweis nach zweiwöchiger Arbeit in Erfurt in seinem Abschlussvermerk nicht erwähnt zu haben, weswegen dies nicht weiter beachtet worden sei. Auf den "Garagenlisten" waren auch Adressen in Chemnitz erwähnt, und dort war die Jenaer Zelle zuerst untergetaucht.

Wie Wunderlich hat auch Norbert Wiesner nach seinen Worten nie etwas von den Listen erfahren. Der einstige V-Mann-Führer des Thüringer Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) erzählte, seine Behörde habe aufgrund der Angaben von "Quellen" ebenfalls vermutet, dass die Gruppe nach Chemnitz geflohen sein könnte. Entdeckt hat sie das LfV allerdings nicht, dessen Vorgehen die Parlamentarier konsterniert dreinblicken ließ. Laut Wiesner hatten die LfV-Leute den Auftrag, ein Handy Ralf Wohllebens, der vor Gericht unter dem Verdacht der NSU-Unterstützung angeklagt ist, zu besorgen und die SIM-Karte auszubauen. Leider sei man an dieses Handy, das Wohlleben nur in seiner Wohnung für Kontakte zum verschwundenen Trio genutzt habe, nicht herangekommen. Warum man denn nicht abgehört habe, wurde der Zeuge gefragt. Antwort: Man habe die Handynummer nicht gekannt.

Angehört wird Wiesner indes vor allem wegen des Umgangs des Geheimdiensts mit dem Spitzel Tino Brandt alias "Otto", einem führenden Kopf des "Thüringer Heimatschutzes" (THS), bei dem vor ihrem Untertauchen auch die drei späteren NSU-Mitglieder mitgemischt hatten. Nach Wiesners Vernehmung sah Linke-Obfrau Petra Pau "den Verdacht nicht entkräftet, dass V-Leute und besonders Brandt aus dem LfV heraus vor polizeilichen Ermittlungen gegen sie gewarnt wurden". Einmal sollen LKA-Beamte, frühmorgens zur Durchsuchung von Brandts Haus ausgerückt, von diesem lächelnd beim Kaffee erwartet worden sein - und die Computerfestplatte sei bereits ausgebaut gewesen. Wiesner bestritt energisch, dass "Otto" von seiner Behörde geschützt worden sei.

Pau hielt dem Zeugen entgegen, Brandt habe geprahlt, sein Spitzelhonorar, das sich auf 100.000 Euro belaufen haben soll, vorwiegend für den THS ausgegeben zu haben. Das sei nicht glaubwürdig, entgegnete Wiesner, der habe das nach seiner Enttarnung so darstellen müssen, um in seinem thüringischen Umfeld bleiben zu können. Allerdings wisse der Verfassungsschutz nicht, wie V-Leute mit Vergütungen umgingen.

Eher nebenbei gab es interessante Einblicke ins Innenleben des Erfurter LfV. Zwischen Quellen-Führer Wiesner und Amtschef Helmut Roewer war es zum Zwist über den Umgang mit "Otto" gekommen. Eine Folge laut Wiesner: "Roewer ließ mein Handy abhören." Thüringer Zustände.