Piwik Webtracking Image

Innerer Kompass hinter Mauern

ORTE des gedenkens Das Beispiel des Stasi-Gefängnisses Kaßberg in Chemnitz zeugt vom schwierigen Umgang mit der Vergangenheit

25.03.2013
2023-08-30T12:23:56.7200Z
6 Min

Am 17. Juni 2011 hielt Clemens Heitmann eine Rede in der Hohen Straße in Chemnitz. Hier, gegenüber vom Landgericht, erinnert eine Stele an die "Opfer der Gewaltherrschaft in den Jahren 1945 bis 1989". Der Chef der Chemnitzer Stasi-Unterlagenbehörde hielt das für den passenden Ort, um der Menschen zu gedenken, die in den Tagen des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 getötet und verhaftet wurden. Eine ganz unerwartete Lektion in Sachen Stadtgeschichte aber erhielt Heitmann, als er nach seiner Rede ins Gespräch mit seinen etwa hundert Zuhörern kam: "Die zeigten auf ein Gebäude hundert Meter weiter und erklärten mir, dass dort für sie ein zum Teil jahrelanges Martyrium geendet habe."

Unverhofft und unbemerkt war Heitmann an einen der geschichtsträchtigsten Orte in Chemnitz geraten: 1886 als Königlich-Sächsische Gefangenenanstalt errichtet, war das Gebäude mehr als 120 Jahre lang Schicksalsort für unzählige Menschen. Die Gestapo und der SS-Sicherheitsdienst inhaftierten dort Juden, Kommunisten und andere Gegner des NS-Regimes, viele von ihnen wurden von dort ins KZ Buchenwald gebracht. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs richtete die sowjetische Besatzungsmacht im Keller des Gebäudes Haft- und Folterzellen ein.

Untersuchungshaftanstalt

In der DDR wurde der Bau schließlich zur größten Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit. Dorthin wurden fast alle derjenigen gebracht, die für den Häftlingsfreikauf in die Bundesrepublik vorgesehen waren: insgesamt etwa 33.000 Menschen. Für viele von ihnen war der Kaßberg das Tor zur Freiheit. Für andere, die die DDR nicht freiwillig verließen, endete dort für lange Zeit der Kontakt zu ihren Familien und Freunden.

Von all diesen Dingen erfuhr Clemens Heitmann vor anderthalb Jahren im Schnelldurchlauf. Beeindruckt von der Wucht der Erinnerungen suchte der 43-Jährige nach einem Zeichen, mit dem die Stadt an die Bedeutung dieses Ortes erinnert. "Alles, was ich fand, war ein Schild", erinnert er sich, "auf dem stand: Zu verkaufen." Dass an diesem Ort, inmitten der begehrtesten Chemnitzer Wohnlage, ein so gewichtiges Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte geschrieben wurde, schien in der Stadt niemanden zu interessieren. Der Bau, nach der Wende weiterhin als Justizvollzugsanstalt genutzt und seit 2010 endgültig geschlossen, ist nach wie vor im Besitz des Staatsbetriebs Sächsisches Immobilien- und Baumanagement und soll verkauft werden.

Heitmann reagierte prompt und gründete mit einer Handvoll Mitstreitern im November 2011 den Verein "Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis". Ihr Ziel: "Wir wollen eine Gedenkstätte einrichten. Der Kaßberg ist ein Ort der Erinnerung - sowohl an die Zeit des Nationalsozialismus, als auch an die Phase der sowjetischen Besatzung und die DDR. Der Häftlingsfreikauf ist dabei zwar unser Alleinstellungsmerkmal, aber eben lange nicht der einzige Grund, diesen authentischen Ort zu erhalten", sagt der 43-jährige Historiker. Auch die SPD-Landtagsabgeordnete Hanka Kliese, wie Heitmann Gründungsmitglied des Vereins, ist davon überzeugt, dass der Kaßberg Einsichten liefern kann wie kaum ein anderer deutscher Gedenkort: "Man kann hier die Dimensionen von Haft in verschiedenen politischen Systemen sehen - und auf welche Arten versucht wurde, Menschen zu brechen. Während politische Häftlinge im ,Dritten Reich' meist stark physisch misshandelt wurden, setzte die SED-Diktatur auf subtilere Methoden der langfristigen psychischen Zersetzung, etwa durch Entzug der Kinder oder Isolationshaft."

Wie groß das Interesse daran ist, zu erfahren, was hinter den alten Mauern geschehen ist, beweist der Ansturm, der einsetzte, als die ersten Chemnitzer Zeitungen von dem Projekt berichteten. Obwohl es bislang im Gebäude keinen Strom gibt und man von Ausstellungsräumen noch weit entfernt ist, fragen täglich Interessierte beim Verein nach Führungen. Und als sich der Gedenkort im vergangenen Sommer zur Chemnitzer Museumsnacht erstmals der Öffentlichkeit präsentierte, kamen mehr als 2.500 Menschen. "Das hat uns überwältigt", sagt Hanka Kliese. "Die These, 20 Jahre nach der Wende solle Schluss sein mit der Aufarbeitung, weil es angeblich niemanden mehr interessiert, wird hier deutlich widerlegt." Viele Besucher waren im Kaßberg-Gefängnis inhaftiert und kommen heute mit ihrer Familie wieder, um diesen schmerzhaften Teil ihrer Biografie aufzuarbeiten.

Sie finde es wichtig, dass der Ort nicht in Vergessenheit gerate, sagt etwa Sabine Popp, die Ende der 1970er Jahre in nächtlichen Aktionen in ihrer Heimatstadt Zwickau auf Mauern "Wir wollen die Wiedervereinigung" geschrieben hatte und als 18-Jährige in das Kaßberg-Gefängnis gesperrt wurde. Nach mehr als zwei Jahren Haft wurde sie freigekauft. Es gehe ihr aber nicht um ihre persönliche Geschichte, sagt Popp, sondern darum, auch nach Jahrzehnten noch daran zu erinnern, wie menschenverachtend Diktaturen mit ihren Kritikern umgehen.

Dass es wichtig ist, diesen Erinnerungen einen Raum zu geben, davon ist inzwischen auch der Sächsische Landtag überzeugt. Er beschloss Ende 2011, beim beabsichtigen Verkauf der Immobilie sei die Errichtung eines "angemessenen und offenen Gedenkortes" sicherzustellen. Inzwischen wurde auch die finanzielle Förderung des Projekts beschlossen: 900.000 Euro werden dafür im Doppelhaushalt 2013/14 zur Verfügung gestellt.

Doch eines ist der Kaßberg noch lange nicht: eine offizielle Gedenkstätte. Das ist mehr als eine semantische Petitesse - es ist Ausdruck eines grundlegenden Problems beim Umgang mit der Zeitgeschichte in Sachsen. Viele Jahre lang hat man um das richtige Gedenken gestritten. So erbittert, dass diverse Opferverbände - unter ihnen der Zentralrat der Juden - aus der Stiftung Sächsische Gedenkstätten ausgetreten waren. Sie hatten im 2003 beschlossenen sächsischen Gedenkstättengesetz die Tendenz zur Gleichsetzung der beiden deutschen Diktaturen gesehen. Erst acht Jahre später gelang es, mit einem neuen Gesetz, dessen Präambel die Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und kommunistischer Diktatur und die Singularität des Holocaust betont, wieder Frieden zu schließen.

Fragiler Frieden

Mit dem Gesetz beschlossen wurde eine Liste sächsischer Gedenkstätten, deren dauerhafte institutionelle Förderung gesichert ist. Auch wenn es mehrere Experten in einer Anhörung empfahlen, steht der Gedenk- ort Kaßberg nicht auf dieser Liste - und nun, nach dem Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens, mag die schwarz-gelbe Koalition des Freistaates aus Angst um den fragilen Frieden daran nicht mehr rütteln. Allein die Tatsache, dass für den Aufbau des Gedenkortes so viel Geld zur Verfügung gestellt wurde, hatte in der Gedenkstättenlandschaft für Unmut gesorgt.

Im Verein gibt man sich deshalb vorsichtig optimistisch. Es wäre ja "geradezu widersinnig", meint Clemens Heitmann, "erst eine so große Summe auszugeben und den Ort dann ab 2015 sich selbst zu überlassen". Doch ob der Kaßberg dauerhaft gefördert und irgendwann doch offiziell zur Gedenkstätte erklärt oder ob sich aufgrund der geschichtlichen Bedeutung des Ortes für Ost und West vielleicht der Bund zuständig fühlen wird, kann niemand sagen. Der Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde Roland Jahn jedenfalls schlug vor, die Chemnitzer Außenstelle seiner Behörde könne auf den Kaßberg umziehen. Konkrete Pläne dafür aber gibt es nicht.

Ohnehin ist auch ohne diese Fragen schon jetzt viel zu tun: Damit das Geld, das von der Gedenkstättenstiftung verwaltet wird, fließt, muss es für mögliche Investoren genaue Vorschläge geben, wie das Areal künftig genutzt werden soll. Der Verein hofft, einen der vier Blöcke des Gebäudes und den Mittelteil für eine Daueraustellung und verschiedene Veranstaltungen haben zu können: Zeitzeugen sollen aus ihren Erinnerungen berichten. Damit dies nach Errichtung des Gedenkortes ab 2015 umgesetzt werden kann, müsse "ein Konzept des potenziellen Trägervereins inklusive belastbarer wirtschaftlicher Planungen in Sinne des Gedenkstättengesetzes" vorgelegt werden, sagt der Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Siegfried Reiprich, der den Gedenkort unterstützt.

Investoreninteressen

In welchem Umfeld der Gedenkort irgendwann vielleicht doch Gedenkstätte wird, darüber kann momentan nur spekuliert werden. Am wahrscheinlichsten ist, dass Investoren das Potenzial des Geländes als Wohnort sehen - innenstadtnah gehört der Kaßberg schon jetzt zu den begehrtesten Wohnlagen in Chemnitz. "Für uns wäre wichtig, dass bestimmte bauliche Eigenheiten erhalten bleiben, die erkennen lassen, dass das hier ein Gefängnis war. Dass es Veränderungen geben wird, vor allem dann, wenn hier vielleicht Wohnungen entstehen werden, ist uns klar - auch wenn die Zeitzeugen damit durchaus ihre Probleme haben", räumt Vereinschef Heitmann ein.

Wie schwer es ist, Investoreninteressen und Gedenken in Übereinstimmung zu bringen, zeigt sich nicht nur in Chemnitz: Auch das DDR-Frauengefängnis Hoheneck im Erzgebirge ist Ort eindringlichster Erinnerung an das Martyrium vieler Frauen. Und doch kämpfte der Verein, der sich für den Erhalt der Gedenkstätte einsetzt, jahrelang gegen die Pläne eines Investors, dort mit Erlebnisgastronomie und Eventhotellerie im "Jailhouse Feeling" Geld zu verdienen. Und in Berlin formierte sich Widerstand gegen den teilweisen Abriss der East Side Gallery: Der berühmte Mauerabschnitt soll Luxuswohnungen weichen. Dass Menschen für solche Orte des Erinnerns und Gedenkens eintreten, bestätigt den Satz der Totalitarimusforscherin Hannah Arendt: "Ohne diese Art der Einbildung, die eigentlich Verstehen ist, wären wir niemals fähig, uns in der Welt zu orientieren. Sie ist der einzige innere Kompass, den wir haben."