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Oppositionelles Gründungsfieber

DDR Einmischung in eigene Angelegenheiten: Im Herbst 1989 stellten Regimegegner der allmächtigen SED neue Parteien entgegen

08.04.2013
2023-08-30T12:23:57.7200Z
5 Min

Am 9. September 1989 trafen sich in Grünheide bei Berlin 30 Oppositionelle zu einem riskanten und in der Geschichte des SED-Staates bis dahin einzigartigen Unternehmen: Sie unterzeichneten einen Aufruf an alle Bürger der DDR, "die an einer Umgestaltung unserer Gesellschaft mitwirken wollen", Mitglied einer neuen Sammlungsbewegung namens "Neues Forum" zu werden. Initiatorin war Bärbel Bohley, die als Regimegegnerin bereits zweimal im Gefängnis gesessen hatte und in den nächsten Wochen und Monaten eine Symbolgestalt der friedlichen Revolution werden sollte.

"In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört", hieß es in dem am folgenden Tag veröffentlichten Papier. Deshalb bedürfe es eines demokratischen Dialogs, der "in aller Öffentlichkeit, gemeinsam und im ganzen Land" zu führen sei. Das Neue Forum (NF) betrachte sich als politische Plattform, die es Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen möglich mache, "sich an der Diskussion und Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Land zu beteiligen".

Erstarrtes Regime

Zehn Tage nach dem Treffen beantragte das NF beim DDR-Innenministerium die formelle Zulassung - für die Staatsmacht eine Provokation. Für eine derartige Vereinigung, erklärte das Ministerium, bestehe "keine gesellschaftliche Notwendigkeit". Die von der SED gelenkte Presse nannte das NF eine "staatsfeindliche Plattform". Der Aufruf des NF verbreitete sich indes - auch dank westlicher Medien - quer durch die DDR. Trotz staatlicher Drohungen unterzeichneten noch im September rund 5.000 Bürger den Appell. Bis Ende des Jahres sollten es 200.000 werden.

Das erstarrte SED-Regime hatte Hoffnungen enttäuscht, die vom sowjetischen KP-Chef Michail Gorbatschow angestoßenen Reformen könnten die DDR erreichen - die Altmännerriege um Erich Honecker sperrte sich gegen jede Veränderung. Zehntausende flüchteten über bundesdeutsche Botschaften oder die seit dem 11. September offene ungarische Grenze gen Westen. Doch diese Massenflucht veranlasste viele andere DDR-Bürger, öffentlich von der kommunistischen Obrigkeit Reformen einzufordern. "Auf einmal gibt es eine neue Alternative, die nicht mehr nur Hierbleiben oder Weggehen, sondern nun auch Einmischen oder Weiterschweigen heißt", schrieb der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. Zwischen Ostsee und Erzgebirge grassierte plötzlich ein oppositionelles Gründungsfieber. Binnen weniger Monate formierten sich Bürgerbewegungen, die sich als demokratische Alternative zur herrschenden Staatspartei und den von ihr abhängigen Blockparteien verstanden, getreu dem Motto, mit dem der NF-Aufruf endete: "Die Zeit ist reif."

Am 12. September 1989 präsentierten Oppositionelle "Thesen für eine demokratische Umgestaltung der DDR", unterzeichnet von Mitgliedern der "Initiative Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung" wie dem Kirchenhistoriker Wolfgang Ullmann und dem Dokumentarfilmer Konrad Weiß. Die Gruppe rief zur Bürgerbewegung "Demokratie jetzt" auf und kündigte eine eigene Liste bei der nächsten Wahl an. Zweieinhalb Wochen später gründete ein Kreis um die Theologen Rainer Eppelmann, Ehrhart Neubert und Friedrich Schorlemmer die Oppositionsgruppe "Demokratischer Aufbruch" (DA) "als Teil der breiten und gewaltfreien Reformbewegung für Demokratie in der DDR".

Und am 7. Oktober, dem DDR-Staatsfeiertag, legten nach Vorarbeit der Theologen Martin Gutzeit und Markus Meckel rund 40 Regimegegner im evangelischen Gemeindehaus in Schwante bei Oranienburg den Grundstein für eine neue sozialdemokratische Partei mit dem Kürzel SDP. In einem Grundsatzpapier bestritt sie den "Wahrheits- und Machtanspruch der herrschenden Partei" und forderte "Rechtsstaat und strikte Gewaltenteilung", "parlamentarische Demokratie" sowie "soziale Marktwirtschaft".

SED-Führung und Stasi waren alarmiert. Honecker forderte "die Isolierung der Organisatoren der konterrevolutionären Tätigkeit". "Schlagartig, konspirativ und vorbeugend" wollte das Regime die angeblichen Rädelsführer verhaften. Die Wortführer der Opposition sahen die Gefahr, ließen sich aber nicht einschüchtern. Einladungen zu Gründungsversammlungen wurden mit größter Vorsicht übermittelt. Die führenden Köpfe der neuen Sozialdemokraten fertigten schon vor dem Treffen in Schwante eine mit elf Unterschriften beglaubigte Gründungsurkunde aus. Sie wurde bei einer Vertrauensperson deponiert, um das Papier - falls die Stasi die Versammlung unterbinden sollte - an West-Medien weiterzuleiten.

Schein-Treffort

Der DA, dessen Gründung die Stasi unbedingt verhindern wollte, griff zu einem Trick, um die Häscher zu täuschen. "Wir hatten einen Schein-Treffort organisiert", berichtete Neubert später. Die rund 80 Gründungsmitglieder wurden zu Eppelmann in das Haus der Samaritergemeinde beordert. Dort erfuhren sie die wahre Adresse der Zusammenkunft, Neuberts Privatwohnung - was die Stasi durch einen Spitzel mitbekam. "Die ersten 17 kamen noch rein", erzählte Neubert, dann habe die Stasi den Zugang dicht gemacht.

Der Mut der Oppositionellen wirkte sich auf die Bevölkerung aus. War der Sommer - wie Schorlemmer festhielt - "noch von Angst, Depression und totaler politischer Stagnation erfüllt", wurde die Gesellschaft im Herbst von einer Welle der Politisierung erfasst; überall erwachte die Lust an der Mitbestimmung. In den Städten gingen Bürger protestierend auf die Straße. Angehörige und Freunde von Verhafteten hielten Mahnwachen. Künstler meldeten sich mit kritischen Stellungnahmen zu Wort, Arbeiter verfassten Resolutionen. Auch wenn Volkspolizei und Stasi die Aufmüpfigen hier und da niederknüppelten - immer mehr Menschen verloren ihre Angst und übten den aufrechten Gang. "Wir demonstrierten und fragten nicht, ob wir das dürfen", erinnerte sich Eppelmann, "wir taten es einfach."

Am 4. Oktober verabschiedeten Vertreter der Oppositionsgruppen eine gemeinsame Erklärung. "Uns verbindet der Wille, Staat und Gesellschaft demokratisch umzugestalten", lautete ein Kernsatz. Doch bald zeigten sich Risse im Reformbündnis, die nach dem Mauerfall immer deutlicher wurden. Während die SDP sich gleich auf eine Parteistruktur festgelegt hatte, verstand sich das NF weiter als offene Diskussionsplattform. "Das NF will politische Verantwortung übernehmen, aber nicht eine Partei werden", erklärte Gründungsmitglied Jens Reich. Als parteiunabhängiges Netzwerk von Öko-Bewegungen sah sich die "Grüne Liga", die sich am 26. November konstituierte, zwei Tage nach der "Grünen Partei".

Zunächst sieben Oppositionsgruppen und -parteien - DA, Demokratie Jetzt, Grüne Partei, NF und SPD sowie die am 2. Oktober gegründete "Vereinigte Linke" und die schon seit 1986 existente "Initiative Frieden und Menschenreche" (IFM) - saßen mit am Runden Tisch, der sich am 7. Dezember auf freie Volkskammerwahlen einigte. In deren Vorfeld drifteten die einst vereinten Regimegegner auch programmatisch weiter auseinander. "Für uns ist die Wiedervereinigung kein Thema", verkündete das NF im Oktober. Bei den Sozialdemokraten, die zunehmend mit der West-SPD kooperierten, und beim DA las sich das anders. Unter dem Einfluss bundesdeutscher Christdemokraten bewegte sich der DA von einer links-ökologischen Grundhaltung zur politischen Mitte. Für die Volkskammerwahl im März 1990 schloss er sich mit der neu ausgerichteten Ost-CDU und dem CSU-Ableger "DSU" zur "Allianz für Deutschland" zusammen, während Schorlemmer zur inzwischen umbenannten SPD wechselte. Das NF wiederum ging mit der IFM und "Demokratie jetzt" zum "Bündnis 90" zusammen.

Ergebnis enttäuschte

Das Wahlergebnis war für die Träger der friedlichen Revolution enttäuschend. Bündnis 90 erhielt 2,9 Prozent der Stimmen, die Grüne Partei in einem Wahlbündnis mit dem "Unabhängigen Frauenverband" 2,0 Prozent. Der DA, dessen Vorsitzender Wolfgang Schnur ebenso wie SPD-Chef "Ibrahim" Böhme als Stasi-Spitzel enttarnt worden war, kam nur auf 0,9 Prozent. Mit der Wahl waren auch die Würfel für die Abwicklung der DDR und ihren Beitritt zur Bundesrepublik gefallen. "Den demokratischen Aufbruchsbewegungen des Herbstes hatte die Einheit fern gelegen", bilanzierte Schorlemmer, "doch die Bürger zogen die Einheit im Wohlstand einer Freiheit in Entbehrung vor."

Der Autor arbeitete 1989/90 als DDR-

Korrespondent des "Stern" in Ost-Berlin.