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Überall Stolpersteine

ITALIEN Die neue Regierung von Enrico Letta ist ein Wagnis mit ungewissem Ausgang

29.04.2013
2023-08-30T12:23:58.7200Z
4 Min

Gut zwei Monate nach der Parlamentswahl bekommt Italien eine neue Regierung. Nach der wochenlangen politischen Krise kündigte der designierte Regierungschef Enrico Letta am vergangenen Freitag an, eine neue Kabinettsliste aufzustellen. Was der für Italiens politische Verhältnisse extrem junge 46-jährige Letta da versucht, ist ein Wagnis - mit vielen Risiken. Getragen wird seine Regierung nämlich von einer bisher unmöglichen Koalition. Zwanzig Jahre lang standen sich das Mitte-Links-Lager um Lettas "Partito Democratico" und Berlusconis "Volk der Freiheit" spinnefeind gegenüber. Und das zwölfmonatige Arbeitsbündnis, zu dem internationaler Druck und drohender Staatsbankrott unter der "Technokraten"-Regierung Mario Montis beide Parteien zusammengezwungen hatte, brachte sie einander nicht näher. Im Gegenteil.

Koalition der Verlierer

Zusammen mit Mario Montis kleiner Zentrumspartei treffen sich die beiden vom Wähler dezimierten, einstmals "Großen" nun in einer Koalition der Verlierer wieder, in welcher ausgerechnet der Politiker mit dem größten Verlust an Wählerstimmen als der Stärkste auftritt: Silvio Berlusconi. Die verhinderten Wahlsieger nämlich, die Sozialdemokraten unter ihrem zurückgetretenen Parteichef und Spitzenkandidaten Pier Luigi Bersani, sind mit der schlecht orchestrierten und aus den eigenen Reihen torpedierten Wahl des Staatspräsidenten praktisch zerfallen. In diesem alles andere als ausgewogenen Kräfteverhältnis liegt eine der Sollbruchstellen der künftigen, in Italien so noch nie erprobten Großen Koalition. Sind, so fragen Berlusconis Leute, die Sozialdemokraten mit ihren gegenläufigen internen Strömungen, ihrer Generalabrechnung "Alle gegen Alle" und ihrer gerade erst beginnenden neuen Selbstfindung zu tragfähigen, verlässlichen Entscheidungen in der Lage? In Lettas "Partito Democratico" wiederum fragen viele: Müssen wir wirklich um jeden Preis mit dem Erb- und Erzfeind Berlusconi koalieren? Einige sozialdemokratische Abgeordnete haben bereits angekündigt, einer Koalitionsregierung auch unter ihrem eigenen Vize-Parteichef Letta das Vertrauen nicht auszusprechen, worauf man in der Fraktionsführung hart reagierte: Wer der Parteilinie nicht folgt, fliegt raus.

Und Berlusconi? Er rühmte sich just dieser Tage damit, "schon sechs Parteiführer der Linken erledigt" zu haben. In Rom wettet so mancher, Enrico Letta könnte der siebte werden. Gestützt auf für ihn günstige Meinungsumfragen ist Berlusconi bereits jetzt versucht, es eher auf möglichst frühzeitige Neuwahlen als auf eine Unterstützung der Großen Koalition anzulegen. Die Zerfaserung seines eigenen Lagers, den auch dort längst in Gang gekommenen Generationenkonflikt, überspielt er mit seiner allgegenwärtigen Persönlichkeit.

Zudem droht Berlusconi gerichtliches Ungemach: Nach dem 13. Mai ist in Mailand mit den Urteilen im Bunga-Bunga-Prozess (Prostitution mit Minderjährigen, Amtsmissbrauch) und in jenem Steuerverfahren zu rechnen, das ihm in erster Instanz bereits eine Verurteilung zu vier Jahren Haft eingetragen hat. Das Appellationsgericht könnte erneut den fünfjährigen Ausschluss Berlusconis aus allen öffentlichen Ämtern verfügen - und der Verurteilte dann aus Wut die Regierung in Rom sprengen. Andere in Rom glauben der Regierung Enrico Lettas eine längere Lebensdauer prophezeien zu können - wobei "länger" im Maximalfall zwei Jahre bedeutet. Anders als Montis "Technokraten"-Kabinett, sagen diese Stimmen, sei die neue Koalitionsregierung nicht von oben eingesetzt, sondern werde von unten, aus den Reihen der Parteien, mit allseits verträglichen Politikern bestückt; das erhöhe den Selbstverpflichtungscharakter.

Wie auch immer: Die Probleme des Landes drängen zu schnellen, entschlossenen Taten. Und Europa - wie auch der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) deutlich machte - will in Rom endlich eine stabile, verlässliche, berechenbare Regierung am Werk sehen.

Italiens Wirtschaft kommt indes nicht aus der Rezession, die Schulden steigen weiter, das Geld ist knapp - unter anderem, weil die öffentliche Verwaltung den privaten Zulieferern an die Hundert Milliarden Euro schuldet und diese jetzt nur tröpfelnd und teilweise zurückzahlen kann. Die Arbeitslosigkeit, gerade unter jungen Leuten, steigt Monat für Monat; nach letztem Stand liegt sie bei 37,8 Prozent. Für 500.000 jener Beschäftigten, die seit Monaten auf Kurzarbeit oder gar Kurzarbeit Null gesetzt sind, geht im Sommer das staatliche Unterstützungsgeld zu Ende. Gleichzeitig ist unter dem Haushaltssanierer Monti die Abgabenlast so schwer geworden, dass - so stöhnt der nationale Unternehmerverband Confindustria - "Firmen Kredite aufnehmen müssen, allein um die Steuern zu zahlen".

Fehlende Reformen

Der private Verbrauch ist als Wirtschaftsmotor ausgefallen. Liegen geblieben sind unter Monti nicht nur Maßnahmen zur Förderung der Konjunktur, sondern auch die Einsparungen beim Staat, die Reform der öffentlichen Verwaltung, die zwangsläufig zum Abbau weiterer Arbeitsplätze führen würde.

Für Reformen dieses Kalibers und dieser Dringlichkeit wäre in der Tat eine Große Koalition das beste Werkzeug. Enrico Letta hat probiert, dieses für Italien neue Instrument auch neuartig zu gestalten; er hat versucht, sich aus dem verfahrenen Zwist der Parteien dadurch zu lösen, dass er möglichst wenige alte, einschlägig verstrickte Politiker in sein Kabinett geholt hat. Das nach Wandel dürstende Volk bekommt also neue Gesichter präsentiert, der neue Geist - er zieht vielleicht bald nach.