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Alles zurück auf Anfang

ÄGYPTEN Lange vor dem Putsch waren die Muslimbrüder im Volk in Ungnade gefallen

15.07.2013
2023-08-30T12:24:02.7200Z
6 Min

Ägypten hat einen neuen Übergangspräsidenten, einen neuen Regierungschef und einen frisch ernannten Generalstaatsanwalt. Die Muslimbrüder, die bei den ersten freien Wahlen noch stärkste Partei waren, sind nicht nur vom Militär entmachtet worden, sondern auch bei weiten Teilen der Bevölkerung in Ungnade gefallen. Und zwar nicht nur, weil es ihnen nicht gelungen ist, innerhalb weniger Monate politische Stabilität zu schaffen und das Vertrauen der Investoren zurückzugewinnen, sondern auch weil sie ihre politische Unschuld verloren haben. Konnten sie 2011 noch von dem Ruf zehren, "politisch Verfolgte zu sein, die den Armen helfen und unseren Gott fürchten", so sind sie in den Augen vieler ihrer Landsleute heute Profiteure, die mit der Religion Handel treiben.

Millionen von Menschen, die sich wie eine Springflut in Straßen und Plätze ergießen, entschlossen, mutig und unnachgiebig - das haben die Ägypter seit Anfang 2011 schon zweimal erlebt. Beim ersten Mal, am 11. Februar 2011, beschlossen die mächtigen Generäle, Präsident Husni Mubarak zu opfern. Damals jubelten die Demonstranten, und mit ihnen die oftmals wie im Rausch berichtenden Reporter aus aller Welt. Glückwunschtelegramme von Regierungen rund um den Globus trafen in Kairo ein. Alle wollten die "große ägyptische Revolution" feiern. Beim zweiten Mal lief alles anders. Zwar gingen am 30. Juni 2013 noch weit mehr unzufriedene Bürger auf die Straße, um den Rücktritt von Präsident Mohammed Mursi und seiner Führungsmannschaft zu erzwingen. Und auch diesmal reagierte die Militärführung, indem sie den Staatschef absetzte. Doch die Demonstranten, die in Kairo auf Laternenmasten und Statuen kletterten, um jubelnd die ägyptische Flagge zu schwenken, blieben mit ihrer Begeisterung alleine. Die Weltpresse beklagte nahezu einhellig den Militärputsch am Nil und solidarisierte sich zunächst einmal mit den entmachteten Islamisten. In den USA wird jetzt darüber diskutiert, ob man den auf Weizenimporte und Rüstungshilfe angewiesenen Ägyptern wegen der "undemokratischen Entwicklungen" der letzten Tage diese Unterstützung streichen müsste.

Zur Demokratie im Bus

Die Ägypter - mit Ausnahme der Muslimbrüder und ihrer Anhänger - verstehen diese internationalen Reaktionen nicht. Die Argumentation, dass Mursi schließlich der erste Zivilist sei, der bei freien Wahlen in Ägypten zum Präsident gewählt wurde, verfängt bei ihnen nicht. Denn sie haben in den vergangenen Monaten den Eindruck gewonnen, dass die demokratisch gewählten Muslimbrüder dem Wahlspruch folgen: "Die Demokratie ist für mich wie ein Bus. Wenn ich mein Ziel erreicht habe, dann steige ich aus." Die von jugendlichen Aktivisten gegründete "Tamarud"-Bewegung, die mit einer Unterschriftensammlung, Massenprotesten und der Unterstützung durch das Militär das vorläufige Ende der islamistischen Herrschaft herbeigeführt hat, ist fest davon überzeugt, das dies ihre letzte Chance war, den rasenden Bus der Muslimbrüder noch aufzuhalten. Nachdem sich Mursi im Frühsommer 2012 in einer knapp gewonnnen Stichwahl hatte durchsetzen können, ging es Schlag auf Schlag. Eine Verfassung wurde formuliert, die kaum Rücksicht auf die Interessen der religiösen Minderheiten und der Säkularen nahm. Mursi ernannte zahlreiche Islamisten zu Ministern und Gouverneuren. Er beschnitt die Macht der Justiz. Gleichzeitig bemühten sich die Muslimbrüder, kritische Geister aus den Führungsgremien des Al-Azhar Islam-Instituts zu entfernen.

Das Bus-Zitat wird übrigens dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan zugeschrieben. König Abdullah II. von Jordanien bemerkte kürzlich in einem Interview, anders als Erdogan, der den Umbau von Staat und Gesellschaft nach seinen Wertvorstellungen in kleinen Schritten betreibe, versuche die ägyptische Muslimbruderschaft das gleiche Programm im Zeitraffer durchzuziehen. Der jordanische König ist, ähnlich wie die anderen arabischen Monarchen, begeistert vom neuen Kurswechsel in Kairo. Die einzige Ausnahme bildet das Herrscherhaus von Katar, das durch eine mit Milliarden unterfütterte strategische Allianz mit der Muslimbruderschaft seit dem Beginn des Arabischen Frühlings zu einer bedeutenden Regionalmacht aufgestiegen ist. Der Emir von Kuwait, König Abdullah von Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate sehen in den Muslimbrüdern dagegen eine Clique von Emporkömmlingen, die ihnen die Macht streitig machen will. Deshalb haben sie der neuen ägyptischen Übergangsregierung in den vergangenen Tagen kostenlose Öl-Lieferungen und Milliardenkredite versprochen.

Dass die "Revolution des 25. Januar" 2011 als Befreiung inszeniert wurde, während die "Rebellion" der vergangenen Tage eher schlechte Presse bekam, hat auch mit Al-Dschasira zu tun, dem einflussreichsten arabischen Nachrichtensender. Zwar sind viele Journalisten den Gründern des Senders bis heute dankbar, weil sie frischen Wind in die Ödnis der traditionellen arabischen Medien gebracht haben. Gleichzeitig wächst jedoch die Kritik an der politischen Berichterstattung des Senders, die fast deckungsgleich ist mit den Positionen seiner Besitzer aus der katarischen Herrscherfamilie. Ein noch relativ neuer Sender der Al-Dschasira-Gruppe, der ausschließlich aus und über Ägypten berichtet, wird von vielen Ägyptern als zu einseitig Pro-Muslimbrüder empfunden. Dutzende von Reportern haben Al-Dschasira in den vergangenen Jahren aus Protest gegen die politischen Vorgaben aus Katar verlassen. Die beiden Sprecher der von liberalen und linken Parteien gegründeten ägyptischen Nationalen Rettungsfront, Hussein Abdelghani und Chaled Dawoud, sind beide enttäuschte ehemalige Mitarbeiter von Al-Dschasira.

Die meisten Probleme haben sich durch den Sturz der Muslimbruderschaft nicht in Luft aufgelöst: Die anderen Parteien sind schlecht organisiert, von internen Rivalitäten belastet und ohne überzeugendes Führungspersonal. Die sogenannte Revolutionsjugend ist nicht in Parteien organisiert. Die Subventionen für Gas und Benzin fressen einen großen Teil der staatlichen Einnahmen auf. Vetternwirtschaft und Bestechung sind weit verbreitet. Die Bildungschancen der Mehrheit der Bevölkerung sind so miserabel, dass es niemanden wundern sollte, wenn es vielen Bürgern schwerfällt, zu verstehen, wofür eine bestimmte Partei steht oder was die Fallstricke der aktuellen Verfassung sind. Gerade das Bildungsfiasko und der Mangel an gelebter Demokratie - auch dies sind Hinterlassenschaften der Mubarak-Ära - erklären jedoch, weshalb die Demonstranten am 30. Juni das Gefühl hatten, sie seien bei den ersten Urnengängen von den Islamisten verschaukelt worden und hätten deshalb nun das Recht auf einen Neustart. In Washington, wo man sich mit den Muslimbrüdern schon gut arrangiert hatte, kam das gar nicht gut an. Das mag denjenigen erstaunen, der sich an das Trauerspiel im Irak erinnert, wo die Amerikaner leidvoll lernen mussten, dass die Gleichung "Wahlen bedeutet Demokratie" in Staaten ohne rechtsstaatliche Tradition nicht aufgeht.

Fahrplan bis zur Wahl

Die neuen Machthaber in Kairo haben einiges falsch und vieles richtig gemacht. Falsch war sicher die Art und Weise, wie sie auf die nicht überraschenden Proteste der Muslimbrüder und der mit ihnen verbündeten salafistischen Parteien reagiert haben. Zwar haben einige Augenzeugen ausgesagt, die Islamisten hätten vor dem Gelände der Republikanischen Garde in Kairo zuerst mit Steinen und vereinzelten Schüssen die gewaltsame Konfrontation gesucht. Dennoch hätte das Militär auf diese Eskalation anders reagieren müssen, als einfach in die Menge zu feuern und mehr als 50 Menschen zu erschießen. Auch die vorübergehende Festnahme von Hunderten von Islamisten zeigt, dass die Militärs keine Aufgaben übernehmen sollten, die in den Zuständigkeitsbereich der Polizei fallen. Auch der Fahrplan für die Übergangszeit - Abstimmung über Verfassungsänderungen in vier Monaten, zwei Wochen später Parlamentswahl, spätestens im Januar soll ein neuer Präsident gewählt werden - ist vielleicht nicht optimal. Die Ernennung des etwas blassen Übergangspräsidenten Adli Mansur ist schon eher dazu angetan, Frieden zu stiften. Auch die Vereidigung des Finanzexperten Hasem al-Beblawi als Regierungschef war eine kluge Personalengscheidung. Der ursprünglich vorgesehene Friedensnobelpreisträger Mohammed al-Baradei hätte auf diesem Posten wahrscheinlich stärker polarisiert. Gefährlich ist, dass die Muslimbrüder und die mit ihnen verbündeten radikalen Islamisten-Parteien derzeit auf Konfrontation setzen. Sie haben eine Regierungsbeteiligung abgelehnt. Die Islamisten fordern eine Wiedereinsetzung von Präsident Mursi. Sie sehen sich als Opfer einer "Kampagne der religiösen Verfolgung". Anne-Béatrice Clasmann

Die Autorin ist Korrespondentin der Nachrichtenagentur dpa für die arabische Welt.