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Der Snowden-Effekt

ABHÖRAFFÄRE Die deutsche Politik ist nach Enthüllung der Praktiken des US-Geheimdienstes in Aufregung. Munition für Wahlkampf

15.07.2013
2023-08-30T12:24:02.7200Z
5 Min

Ein Problem ist die deutsche Politik mittlerweile los. Nachdem Venezuela und vier weitere lateinamerikanische Länder dem mit US-Haftbefehl gesuchten Edward Snowden Asyl angeboten haben, stellt sich die Frage nicht mehr, ob Deutschland ihn aufnehmen sollte. Politiker der drei Oppositionsparteien hatten dies gefordert, die Bundesregierung jedoch hat es abgelehnt. Aber es bleiben genug offene Fragen.

Nach wie vor ist nicht klar, inwieweit zutrifft, was Edward Snowden über Aktivitäten insbesondere amerikanischer und britischer Geheimdienste an die Öffentlichkeit brachte. Der 28-jährige Amerikaner war Angestellter der Firma Booz Allen Hamilton, eines Dienstleisters des US-Geheimdienstes NSA, bevor er sich im Mai mit mehreren Laptops voller Daten zunächst nach Hongkong absetzte. Die nachgeordnete Position Snowdens lässt vielen deutschen Politikern Zurückhaltung geboten erscheinen. So sagte der Vorsitzende der deutsch-amerikanischen Parlamentariergruppe, Hans-Ulrich Klose (SPD) im "Tagesspiegel", man müsse "im Augenblick sehr vorsichtig sein mit Urteilen. Denn bekannt ist eigentlich nichts, es gibt nur Vermutungen." Von der US-Regierung erwarte er "zumindest eine offene Entschuldigung, wenn es stimmt, was ich alles lesen muss".

"Strikte Vorgehensweisen"

Ob es stimmt, versucht die Bundesregierung herauszufinden, seit Snowden an die Öffentlichkeit gegangen ist. Bisher reicht der Kenntnisstand kaum über das hinaus, was US-Präsident Barack Obama bei seinem Berlin-Besuch am 19. Juni Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) versicherte: Dass es nämlich "sehr strikte Vorgehensweisen" gebe. Die US-Dienste dürften nur Verbindungsdaten überprüfen und bräuchten für das Abhören oder Einsehen von Inhalten einen bundesrichterlichen Beschluss. Die zwischen Merkel und Obama vereinbarten Gespräche über offene Fragen, zu denen unter anderem Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) gerade nach Washington gereist ist, sind noch längst nicht am Ziel.

Offen ist beispielsweise, wo ausländische Dienste an die Kommunikationsdaten gelangen. Sollten sie sich Zugang zu Internetknotenpunkten auf deutschem Boden verschafft haben, wäre dies ein klarer Verstoß gegen deutsche Gesetze. Die Bundesanwaltschaft prüft derzeit, ob es Ansatzpunkte für ein Ermittlungsverfahren gibt. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel und andere Oppositionspolitiker haben in den vergangenen Tagen solche strafrechtlichen Ermittlungen gefordert. Nach einer Sondersitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKG) am 3. Juli mit den Chefs der deutschen Sicherheitsdienste und Kanzleramtsminister Roland Pofalla (CDU) erklärte PKG-Mitglied Clemens Binninger (CDU): "Es gibt keine Hinweise darauf, dass auf deutschem Boden Daten abgeleitet wurden, aber die Datenströme fließen weltweit und damit auch außerhalb des deutschen Rechts."

Ebenfalls keine Hinweise gibt es offenbar darauf, dass US-Dienste deutsche Regierungsstellen oder diplomatische Vertretungen abgehört haben. Große Empörung herrscht aber in Deutschland über das angebliche Abhören von EU-Vertretungen. Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) nannte den Verdacht eine "schwere Belastung" für die Verhandlungen über eine europäisch-amerikanische Freihandelszone. Diese Gespräche haben zwar am 8. Juli begonnen, aber die Europäer möchten ihren Fortgang vom Verlauf der parallel geführten Gespräche über Datenspionage abhängig machen.

Einen neuen Aspekt in die Diskussion brachte ein Interview mit Edward Snowden, das "Der Spiegel" am 8. Juli veröffentlichte. Darin sagte dieser, die NSA stecke "unter einer Decke mit den Deutschen, genauso wie mit den meisten westlichen Staaten". Dem "Spiegel" zufolge wertet der Bundesnachrichtendienst (BND) mit Hilfe von NSA-Technik den aus dem Nahen Osten kommenden Telefon- und Internetverkehr aus. Regierungssprecher Steffen Seibert bestätigte, dass es zwischen der NSA und dem BND eine "sehr lange zurückreichende Zusammenarbeit" gebe, die aber streng nach Recht und Gesetz ablaufe. "Der BND kooperiert im Rahmen seines gesetzlichen Auftrags mit den Partnerdiensten." Dies sei nötig, betonte Seibert, um Bürger vor Terroranschlägen zu schützen.

Oppositionsattacke

Die Opposition gibt sich mit solchen Erklärungen nicht zufrieden. SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück attackierte die Kanzlerin: Sollten sich die Berichte über eine rechtswidrige Kooperation von BND und NSA bewahrheiten, "dann bin ich gespannt, wie Frau Merkel diesen Verfassungsbruch rechtfertigen will". Die Bürger vertrauten "zu Recht darauf, dass sich alle, auch die Nachrichtendienste, an Recht und Gesetz halten. Deshalb müssen jetzt alle Fakten auf den Tisch." Die Linke bezog in Blick auf frühere Bundesregierungen auch die Sozialdemokraten in ihre Forderung nach unverzüglicher Aufklärung ein. Sollten sich SPD und Union "weiterhin in geheuchelter Empörung und Untätigkeit ergehen, sehe ich keinen anderen Ausweg, als die Mitwisser- und Mittäterschaft in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Bundestages zu klären", sagte der Datenschutzbeauftragte der Links-Fraktion, Jan Korte.

Mit nicht weniger scharfen Worten forderte die Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Claudia Roth, Aufklärung: "Die Merkel-Koalition muss klar machen, in welchem Ausmaß der deutsche Geheimdienst am Abhörskandal beteiligt ist. Es verstärkt sich der Eindruck, dass es nicht nur um Mitwisser-, sondern auch um Mittäterschaft geht." Der innen- und netzpolitische Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, Konstatin von Notz, sagte: "Die Enthüllungen durch Edward Snowden offenbaren, dass sich totalitäre Strukturen in unserem Rechtsstaat eingenistet haben, die seine Existenz ernsthaft bedrohen."

Weit weniger als das Datenüberwachungsprogramm "Prism" der NSA hat das Programm "Tempora" des britischen Geheimdienstes GCHQ, das Snowden zufolge nach Art und Umfang vergleichbar ist, bisher die politische Diskussion in Deutschland bestimmt. Dabei könnte das Datensammeln des EU-Mitglieds europäisches Recht verletzt haben. Aus dem Europaparlament hat es deshalb Forderungen nach einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Großbritannien gegeben. Ein Untersuchungsausschuss des Europaparlaments will nun die Aktivitäten von NSA und GCHQ unter die Lupe nehmen. Ein ebenfalls sehr umfangreiches Überwachungsprogramm des französischen Auslandsgeheimdienstes DGSE, über das die französische Zeitung "Le Monde" am 4. Juli berichtete, hat hierzulande bisher noch kaum Wirbel verursacht. Dabei gibt es "Le Monde" zufolge für diese Aktivitäten der DGSE, anders als für die von NSA und GCHQ, nicht einmal eine rechtliche Grundlage.

Wahlprogramm geändert

Ob sich durch die Veröffentlichungen Edward Snowdens irgendetwas an der Arbeit von Geheimdiensten ändert, ist noch nicht absehbar. Schon geändert hat sich aber das Wahlprogramm von CDU und CSU. Den Anstoß dafür gab der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer, der in internen Gesprächen davor gewarnt hat, die Sorge bürgerlicher Wähler vor der Überwachung des Telefon- und Internetverkehrs zu unterschätzen. Daraufhin strichen die Generalsekretäre Hermann Gröhe (CDU) und Alexander Dobrindt (CSU) in Abstimmung mit Bundeskanzlerin Merkel und Innenminister Friedrich das Wort "Vorratsdatenspeicherung" aus dem Programmentwurf und ersetzten es durch "Mindestspeicherfristen". Davor stellten sie den Satz: "Der Staat muss die persönlichen Kommunikationsdaten der Menschen schützen."

Zur Begründung sagte Friedrich: "Der Begriff Mindestspeicherfrist erklärt viel besser und präziser als Vorratsdatenspeicherung, um was es wirklich geht." FDP-Generalsekretär Patrick Döring sprach dagegen von einem "Eiertanz". Solange die Union weiter für die "anlasslose Speicherung der Daten unserer Bürger" sei, sei die neue Formulierung "billiger Etikettenschwindel". Gegen eine grundlegende Änderung in der Sache haben sich aber umgehend Stimmen in der CDU erhoben. Der Vorsitzende des Bundestags-Innenausschusses, Wolfgang Bosbach, warnte davor, wegen des Wahlkampfes nervös zu werden. Die Union solle zu dem stehen, was sie vor Jahren nach sorgfältiger Abwägung festgelegt habe. Und Saarlands Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer mahnte, aufzupassen, "dass wir in dieser Debatte nicht alles über Bord werfen, was wir letztlich für unsere Sicherheit brauchen".