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Der Ort des Politischen

ESSAY Die Demokratie sortiert sich neu. Der Bundestag muss dabei Zentrum des Diskurses werden

15.07.2013
2023-08-30T12:24:03.7200Z
6 Min

Klagegesänge über das Schattendasein des Parlaments sind längst zum Ohrwurm geworden. Falsch macht sie das nicht. Tatsächlich wird von allen Seiten, von außen und innen und unten, derart herumgezerrt daran, als erreiche diese Debatte eine neue Qualität. Dafür spricht auch, wie pointiert zum wiederholten Male sich Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) gegen den legeren, selbstbewussten "Gestaltungsehrgeiz" aus dem Mund von Andreas Voßkuhle wehrt - und wie unverdrossen und keineswegs kleinlaut der Karlsruher Gerichtspräsident jeweils neu reagiert.

Es ist aber gar nicht so sehr das Bundesverfassungsgericht, das zum "Herausforderer" wird, das Parlament ist vielmehr noch stärker als in früheren Jahren in den Schatten der Exekutive geraten, vor allem seit die Euro-Krise die Tagesordnung beherrscht. Europäische Handlungszwänge begrenzen den Manövrierraum nationaler Akteure ebenso wie die ungreifbaren "Finanzmärkte", die Europäische Zentralbank oder der Internationale Währungsfonds. Hinzu kommen internationale Entwicklungen, Rebellion in Ägypten, Bürgerkrieg in Syrien, der kulturelle Zusammenprall in der Türkei, die Klimaveränderung, Energie-Suche - alles wirkt auf die Nationalstaaten zurück, die selbst kaum Einfluss darauf ausüben können. Das führt zum ambivalenten Bild eines relativ unscheinbaren, arbeitsamen, mehr mit der Flensburger Punktezahl für Telefonieren am Steuer als mit den Hauptsachen befassten Parlaments, während viel dramatische Politik in der Luft liegt. Verständlich klingt vor dem Hintergrund die Klage von Abgeordneten, Dringendes lasse sich oft nur unendlich langsam bewegen (Pflege), während dringend Diskussionsbedürftiges (Euro-Rettungskurs, Energiewende) häufig im Eiltempo durchgepaukt werde.

"Ja, aber"-Position

Als folgenreichstes Novum auch für den Bundestag erweist sich Europa. Aus Brüsseler Sicht lähmt die nationalstaatliche Perspektive die notwendige Kooperation; aus Regierungssicht verlangt die Euro-Krise im Zweifel rasches exekutives Handeln; nach Meinung des Verfassungsgerichts wiederum dient "die stärkere Einbindung des Parlaments in den europäischen Integrationsprozess dem Ausgleich der mit der Europäisierung verbundenen Kompetenzverschiebungen im nationalen Gewaltengefüge zugunsten der mitgliedstaatlichen Regierungen". Alle drei Perspektiven sind nachvollziehbar.

Schon in seinem Lissabon-Urteil 2009 mahnte das höchste Gericht an, dem Bundestag müssten "Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht" bleiben, wozu es Politikfelder wie Verteidigung, Bildung, Soziales, aber auch "fiskalische Grundentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben" zählte. In dieser "Ja, aber"-Position - die Regierung darf handeln, einen Automatismus jedoch dürfe es nicht geben - verharrten die Karlsruher Richter seitdem. Als "Reflexionsschleife", die man dem Bundestag verordne, verteidigte der Gerichtspräsident diese Grundhaltung.

Gar so weit liegen Parlament und Gericht gar nicht auseinander, wenn man die Sache näher besieht. Je mehr der Bundestag unter den Druck kam, umso spürbarer entfaltete sich dort selbst der Wunsch, seine Mitspracherechte neu zu regeln. Auf ernsthafte "Unterrichtungspflichten" möchte auch das Gros der Parlamentarier - nicht nur in der Opposition - die Regierung festlegen. Gelegentlich mag auch der Wunsch eine Rolle spielen, die eigene Skepsis gegenüber einer weiterführenden Kompetenzabtretung nach Brüssel hinter "Karlsruhe" verbergen zu können. Das gilt aber auch umgekehrt für Karlsruhe: Kritiker argwöhnten seit dem Lissabon-Urteil, die Richter wollten parlamentarische Verzögerungen einbauen, um den Prozess in Richtung politischer Union und Souveränitätsübertragung nach Brüssel heimlich zu bremsen. Kurzum, alle üben sich in europäischer Rhetorik, aber viele verschanzen auch unausgesprochene Interessenlagen dahinter.

In Wahrheit sitzen beide in einem Boot, was auch eine Chance bietet: Jeder Schritt hin zu "mehr Europa" oder "Haftungsgemeinschaft" stellt eine gewaltige politische Herausforderung dar, über die Regierung und Opposition weithin schweigen. Ohne einen legitimierenden Diskurs des Parlaments wird aber die zögernde Öffentlichkeit dafür nicht zu gewinnen sein. Der Bundestag dürfte sich nicht damit abfinden, nur "Verweigerungskompetenz" (Heribert Prantl in der "Süddeutschen Zeitung") zu haben, er müsste auch "Gestaltungskompetenz" beanspruchen. Das Urteil vom Juni 2012 zu den Unterrichtungsrechten des Bundestages im Zusammenhang mit der Euro-Rettung verstand nicht nur die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" als "Warnung vor einer Entdemokratisierung" und Kritik am Regierungsstil. Es war ein Versuch zur Aufmunterung des Parlaments; mindestens könnte man es so nutzen. Was immer zu einer Art Selbstfesselung in den Fraktionen geführt hat - die Medien mieden diesen Diskurs weitgehend auch.

Man rührt damit an ein generelles Problem: Die Politik zeigt nicht nur in Sachen Europa, sie zeigt überhaupt niedriges Profil, sie möchte uns Wahlbürger lieber nicht belasten - und die Öffentlichkeit lehnt sich (selbst-)zufrieden zurück, obwohl die Krise den Euro-Klub gerade wieder einholt. Nicht von gleicher Wucht wie die "europäische Frage", aber keineswegs irrelevant ist es, dass sich der "Ort des Politischen", das Zentrum, schwer ausmachen lässt. Von dieser Verschiebung und Relativierung des Parlaments - dem Ohrwurm! - handelt zwar auch der Disput zwischen Karlsruhe und Berlin, aber sie betreffen nicht zuletzt Parteien und Medien. Auch ihr Stellenwert, Einfluss, Rolle, alles verändert sich, inklusive der Partizipationswünsche von unten, von "Stuttgart 21" und "Occupy" bis "Piraten" und "Alternative für Deutschland".

Schließlich die immanenten Grenzen des Parlaments: Mit viel Verständnis argumentiert die frühere Bundespräsidentenkandidatin Gesine Schwan, Abgeordnete wollten wirken. Aber dazu müssten sie wiedergewählt werden, müssten sich in ihren Parteien behaupten, unterlägen medialen Vereinfachungszwängen. Hinzu kämen die Globalisierungsfolgen: Im Rennen um Kapital und Investitionen sei es gefährlich, sich zu exponieren mit eigenwilligen Positionen. Politiker - darauf läuft das Argument hinaus - müssten in einer zunehmend komplexeren Welt ihre Rollen spielen, eine wirkliche Verständigung könne sich das Parlament schwerlich leisten.

Recht hat sie. Besonders rollenunsicher wirken gerade die Medien, von denen viele sich in der Krise befinden. Mit allzu viel Politik wollen auch sie das Publikum nicht verschrecken. Vergleichsweise schneidet die Politik sogar noch recht gut ab: Man mag beispielsweise den Schlussbericht der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" zwiespältig und wenig mutig nennen; zweifellos aber könnte die Öffentlichkeit einen großen Aufklärungs- und Lerngewinn allein schon aus diesen parlamentarischen Suchbewegungen ziehen. Aber dazu sind die Medien in aller Regel viel zu nervös.

Worum es hier aber letztlich geht: Wenn es überhaupt einen "Ort des Politischen" gibt, der nach all den Irrungen und Wirrungen der vergangenen Jahre eine Renaissance verdiente, dann dieser unter der Reichstagskuppel. Die Talkshows sind kein Ersatz, wie sich erwiesen hat. Es gibt keinen Grund, sich ins Bockshorn jagen zu lassen. Im Gegenteil: Je stärker Europa sich verzahnt, umso größer der Bedarf an "Übersetzern". Und je größer die zivilgesellschaftlichen Mitsprachewünsche, umso wichtiger ein starkes Vis-à-Vis, das Demokratie nicht als Risiko, sondern als Chance begreift, samt ihrer mühseligen Prozesspolitik. Zwei gehören zum Tango.

Stille Metamorphose

Dabei ist die gravierendste politische Veränderung noch gar nicht angesprochen - die der internationalen Rolle der Republik. Ob nun Polens Außenminister Sikorski Berlin auffordert, sich der Führungsrolle in Europa zu stellen, oder der "Economist" die Bundesrepublik einen "reluctant hegemon" ("widerstrebenden Hegemon") tituliert: Immer lautet die Grundannahme, die Deutschen seien schon aus ökonomischer Stärke heraus in einer herausragenden Position; das müssten sie nun im allgemeinen, nicht nur nationalen Interesse umsetzen in Politik. Diese stille Metamorphose ist ein Politikum, aber wie holt man derlei ins Hohe Haus?

Willy Brandt stellte seiner Kanzlerschaft 1969 das Motto "mehr Demokratie wagen" voran. So pathetisch wird man das 2013 kaum formulieren. Gleichwohl: Ja, die Demokratie sortiert sich neu, radikal neu. Heute geht es um das Antizipieren des künftigen Europa und die innere Balance im Gefüge einer modernen Demokratie. Zu wünschen wäre, dass ein weitsichtiges Gericht und ein zielstrebiges Parlament sich (und uns) auf die "Europäisierung Europas" offensiv vorbereiten und nicht nur die jeweils nächsten "Rettungsschirme" und Institutionen-Reformen abwarten. Wenn das Parlament - wer sonst? - etwas zurückerobert von jenem Diskurs, den die Politik dringend braucht, sind seine Perspektiven gar nicht so schlecht.