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Zum Wohl der Bürger

KOMMUNALPOLITIKER Sie kennen ihre Gemeinden und die Sorgen der Leute. Sie arbeiten engagiert und oft unentgeltlich. Sie sind nicht prominent, aber halten die…

19.08.2013
2023-08-30T12:24:03.7200Z
6 Min

Dass ein Bürgermeister immer wieder nach seinem Einkommen gefragt wird, ist eher ungewöhnlich. Für Ralf Theuer ist es inzwischen Routine: Der 58-Jährige ist der wohl einzige Bürgermeister in Deutschland, der von Hartz IV lebt. In der Gemeinde, der er vorsteht, ist Theuer damit bei weitem nicht der Einzige. Brieskow-Finkenheerd ist ein Dorf mit 2.600 Einwohnern in Brandenburg, nur ein paar Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Fast jeder Zehnte bezieht hier Arbeitslosengeld II, die Schule wurde schon lange dicht gemacht. Brieskow-Finkenheerd ist eines dieser Dörfer im Osten, die nach der Wende irgendwie den Anschluss verpasst haben. Früher gab es hier Arbeit im Tagebau, im Heizkraftwerk oder im VEB Oderfrucht. Heute hat der Landkreis eine Arbeitslosenquote von knapp elf Prozent.

30-Stunden-Job

Und einen Bürgermeister, der die so genannte Grundsicherung für Arbeitssuchende bekommt, "seit es das gibt. Und das wird sich auch nicht mehr ändern, in meinem Alter kommt da nichts mehr". Auch wenn der ehemalige Maschinenbauer schon lange keine Hoffnung mehr auf einen Job hat: Aufgegeben hat Ralf Theuer sich nicht. Seit 1998 ist der dreifache Vater Bürgermeister. Obwohl er dieses Amt nur ehrenamtlich ausübt, hat er meist viel um die Ohren. "Gerade sind wir über der Komplettsanierung des Gemeindezentrums, da ist immer was zu tun. Außerdem müssen die Minijobber angeleitet werden und dann sind da noch die normalen Amtsgeschäfte: Baumaßnahmen planen, sich darum kümmern, wenn irgendwo Dreckecken weggemacht werden müssen." Schwierig werde es, wenn es darum gehe herauszubekommen, ob man für den Ort Fördergelder beantragen könne: "Rauszufinden, wo es etwas gibt und wie man das in Anspruch nehmen kann, ist wirklich kompliziert. Da muss man sich richtig reinfuchsen."

Gut 30 Stunden nehme der Bürgermeister-Job pro Woche in Anspruch, erzählt Theuer. Könnte er das auch machen mit einem regulären Arbeitsplatz? "Na, ganz sicher nicht in dem Umfang." Das Ehrenamt als Bürgermeister ist also nur machbar, wenn man arbeitslos ist? "Wenn Sie so wollen, kommt das schon hin", sagt Theuer. Das Amt macht ihm Spaß; er ist stolz darauf, dass seine Nachbarn es ihm zutrauen, sich gut um das Dorf zu kümmern. Nur seine Frau schimpfe oft, weil daheim vieles liegen bleibe, wenn er in seiner Amtsstube ist oder am Stammtisch hört, was den Leuten unter den Nägeln brennt.

Theuer ist kein Mann der großen Worte. Ihm geht es darum, anzupacken in einem Ort, den viele ehemaliger Bewohner längst aufgegeben haben. Nur zwei Mal war Brieskow-Finkenheerd in den vergangenen Jahren in den Schlagzeilen: Einmal 1998, als für "Wetten, dass...?" in einer Außenwette zwei Kraftwerkschornsteine so gesprengt wurden, dass sie sich berührten. Und 2005, als man im Ort neun Babyleichen entdeckte, die die Mutter der Kinder in Eimern und Blumentöpfen vergraben hatte. Schlimme Schlagzeilen waren das damals - und ein großer Druck für den Bürgermeister, bei dem das Telefon nicht mehr stillstand. Der Erklärungen liefern sollte für etwas, das er selbst nicht verstehen konnte. Heute will er darüber nicht mehr lange reden; sagt nur, er glaube nicht, dass die Taten der Frau etwas mit der DDR-Erziehung zu tun gehabt hätten, wie es damals von manchen Politikern formuliert worden war.

Parteilos kandidiert

Große politische Debatten will Ralf Theuer nicht führen. Er ist zwar Mitglied der Linken, hat aber dennoch als Parteiloser für das Bürgermeisteramt kandidiert. "Beim ersten Mal bin ich seitens der PDS angetreten und habe es nicht geschafft. Danach haben mir Bürger gesagt, der Name PDS hätte vielleicht zu viele abgeschreckt - und siehe da, bei der nächsten Wahl hat es geklappt." Immer schon habe er im Ort etwas bewegen wollen. "Das ist meine Heimat. Und eine regelmäßige Arbeit ist schwer oder gar nicht zu bekommen. Als Bürgermeister habe ich eine Aufgabe und komme mit vielen Bürgern zusammen. Man hat sein Ansehen."

Weggehen kam für Theuer und seine Frau nie in Frage. Sie hatten nach der Wende in Brieskow-Finkenheerd eine Eigentumswohnung gekauft und wollten die Kinder nicht aus ihrem gewohnten Umfeld reißen. Auch nicht, als Theuers Frau ebenfalls arbeitslos und schließlich Hartz-IV-Bezieherin wurde.

Von der Aufwandsentschädigung, die Theuer für sein Ehrenamt bekommt, bleibt nicht viel. "Das wird ja alles verrechnet, weil ich Hartz-IV-Empfänger bin. Zum Schluss habe ich im Monat davon 175 Euro." Theuer lacht: "Und so ein bisschen zusätzliches Taschengeld ist für einen Opa von fünf Enkeln ja auch nicht schlecht."

Die Kommunalpolitik macht gerade Sommerpause. Andreas Koch, Fraktionssprecher der SPD im Esslinger Gemeinderat, arbeitet weiter. Im September ist Bundestagswahl, im Mai 2014 sind Kommunalwahlen in Baden-Württemberg. Allein in dieser Woche hat der Stadtrat vier Abendtermine. Koch lächelt: "Esslingen hat eine etwas unglückliche Größe." Mit 90.000 Einwohnern sei die Stadt zu groß, um Kommunalpolitik auf wenige Sitzungen im Monat zu beschränken und zu klein, um als Politiker in Vollzeit hauptberuflich zu arbeiten. Seit einigen Jahren lebt Koch am Marktplatz, gegenüber dem Rathaus. Er lacht. Nein, er sei nicht dort hingezogen, um näher am Rathaus zu sein. "Die Wohnung passte für mich als alleinerziehender Vater einfach gut. Aber klar, der Standort hat den Vorteil der kurzen Wege."

Andreas Koch, 60 Jahre alt, sitzt seit 1991 für die SPD im Esslinger Gemeinderat, die meiste Zeit davon als Sprecher der Fraktion. Ein ehrenamtlicher Halbtagsjob für 400 Euro Aufwandspauschale im Monat, neben seiner Vollzeitstelle als Rundfunkpfarrer der evangelischen Landeskirche Württemberg. Koch ist Routinier, doch die vergangenen Monate stecken ihm in den Knochen. Heftig wie selten war ein Sturm bürgerlicher Entrüstung über die Stadt gefegt. Die Debatte über den Flächennutzungsplan und die Frage, wo in den nächsten Jahren neue Häuser entstehen sollen, drohte Esslingen zu spalten. "Wir hätten riskiert, Stuttgart 21 in klein zu bekommen", meint Koch, der einst selbst "über eine Protestaktion zur Kommunalpolitik gekommen" ist. Als junger Vater hatte er gegen eine Entscheidung des Gemeinderats protestiert, im örtlichen Freibad keine neue Umwälzpumpe im Planschbecken einzubauen. "Das hätte bedeutet, dass Familien mit kleinen Kindern nicht mehr ins Bad hätten gehen können." Koch organisierte Widerstand und ließ seine Kinder in einem Planschbecken in der Fußgängerzone baden. Der Gemeinderat genehmigte die Pumpe schließlich doch und Koch stieg, mit Ende 30, in die Kommunalpolitik ein. Er, der als Jugendlicher "den großen Wurf" im Kopf hatte, mindestens Außenminister werden wollte, entschied nun über den Ausbau von Straßen und wann die Schulen neue Fenster bekamen. Der erste Erfolg des Stadtrats Koch: ein zweites Waschbecken in einer Kita. Er lächelt. "Auch so was ist wichtig."

Gefährliche Entwicklung

Doch seit dem Protest gegen das Bahnhofsprojekt "Stuttgart 21" habe sich die Kommunalpolitik verändert. Immer öfter protestierten Bürger erst, wenn die Debatte bereits gelaufen sei. "So verschleppen wir Entscheidungen", meint Koch, der aber im aktuellen Fall des Flächennutzungsplans die protestierenden Bürger nicht einfach als Egoisten abstempeln will. "Es ist uns anscheinend nicht gelungen, zu erklären, warum wir einen neuen Flächennutzungsplan aufstellen wollen."

Doch immer öfter beschleicht Koch das Gefühl, dass es im Bürgerprotest eher um das Eigenwohl als das Gemeinwohl gehe. Den Vorschlag, ein Landschaftsschutzgebiet zu Bauland umzuwandeln, hält er zwar auch nicht mehr für richtig. Aber dass eine Stadt heute kein Baugebiet mehr ausweisen könne, ohne dass es Anwohnerproteste hagelt, empfindet er als gefährlich.

Flamme der Begeisterung

Koch versichert, er habe nie gegen seine Überzeugung gestimmt, allerdings gehöre der Kompromiss zum politischen Geschäft dazu. "Wenn ich meine politischen Überzeugungen in Reinform verfolge, loben mich Medien und Bürger als einen aufrechten Politiker." Nach einer kurzen Pause fügt er an. "Und die SPD hätte nach der nächsten Gemeinderatswahl drei Sitze weniger." In jüngerer Zeit hat er sich manchmal gefragt, ob er weitermachen soll. "Was, wenn das Ergebnis von all dem ein Herzinfarkt ist?" Doch er spüre da immer noch die Flamme der Begeisterung. "Ich will hier in meiner Stadt gestalten", sagt Koch und seine Augen leuchten, die Gestik wird jetzt energisch. "Ohne Leidenschaft geht es nicht", sagt er und räumt ein, es spreche da nicht nur der Gutmensch aus ihm. "Eine gewisse Lust an der Macht und daran, sich durchzusetzen, gehören dazu." Und nach einer Pause ergänzt er lächelnd: "Eitelkeit auch."