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Wie welche Stimme zählt

GRUNDLAGEN Bei Parlamentswahlen können unterschiedliche demokratischen Regeln gelten. In Deutschland gilt ein "personalisiertes Verhältniswahlrecht"

16.09.2013
2023-08-30T12:24:04.7200Z
4 Min

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages", so heißt es in Artikel 38 des Grundgesetzes, "werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt". "Allgemein" bedeutet, dass grundsätzlich jeder Deutsche wählen darf, der - wie ebenfalls im Artikel 38 festgelegt ist - das 18. Lebensjahr vollendet hat. "Unmittelbar" heißt, dass die Wähler die Parlamentarier direkt, also ohne die Zwischenschaltung von Wahlleuten wählen. "Frei" besagt, dass auf die Wähler keinerlei Zwang ausgeübt werden darf. "Gleich" bestimmt, dass jeder Stimme das gleiche Gewicht zukommt, unabhängig beispielsweise vom Bildungsstand, Vermögen oder Geschlecht. Und "geheim" bedeutet, dass niemand wissen darf, wie ein Wähler abgestimmt hat - sofern er es nicht von selbst mitteilt.

Große Unterschiede

Diese Wahlgrundsätze erscheinen uns selbstverständlich für demokratische Wahlen, doch war beispielsweise das Prinzip der "freien" Wahl in der Weimarer Verfassung von 1919 nicht ausdrücklich festgeschrieben. Auch von anderen Wahlsystemen unterscheidet sich das deutsche Wahlrecht. Anders als in der Bundesrepublik wird etwa in Großbritannien die relative Mehrheitswahl praktiziert. Dabei ist gewählt, wer in seinem Wahlkreis die meisten Stimmen erhält; die Stimmen für die unterlegenen Kandidaten werden nicht berücksichtigt. Auf diese Weise kommt es meist zu klaren Mehrheiten im Parlament, doch werden große Parteien begünstigt. In Frankreich wiederum wird das Prinzip der absoluten Mehrheitswahl angewendet. Dabei muss ein Kandidat in seinem Wahlkreis die absolute Mehrheit erringen, also mehr als 50 Prozent der Stimmen bekommen, um im ersten Wahlgang ins Parlament einziehen zu können. Gelingt dies nicht, steht ein zweiter Wahlgang an, bei dem die relative Mehrheit ausreicht.

Die absolute Mehrheitswahl gab es auch im Deutschen Reich bis 1918. In der Weimarer Republik hingegen wurde nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt. Dabei erfolgt die Besetzung der Wahlämter exakt im Verhältnis der abgegebenen Stimmen. Entfallen also bei einer reinen Verhältniswahl auf eine Partei zehn Prozent der Stimmen, erhält sie auch zehn Prozent der Mandate. So gehen nicht wie bei der Mehrheitswahl Stimmen verloren, und auch kleineren Parteien kann der Sprung in das Parlament gelingen. Darin liegt indes auch der Nachteil, dass dann gegebenenfalls sehr viele Parteien im Parlament vertreten sind und dies die Regierungsbildung erschwert. Als weiterer Kritikpunkt gilt, dass der Wähler bei der Stimmabgabe für eine Partei nicht sicher sein kann, welche Koalition diese nach der Wahl möglicherweise eingeht, um eine Mehrheitsbildung zu ermöglichen. Um eine zu große Zersplitterung des Parlaments zu verhindern, gibt es in der Bundesrepublik - anders als in der Weimarer Republik - die Fünf-Prozent-Hürde (siehe Beitrag rechts), die freilich eine Ausnahme von dem Grundsatz der "gleichen" Wahl darstellt.

In der Bundesrepublik gilt ein "personalisiertes Verhältniswahlrecht", bei dem jeder Wähler zwei Stimmen hat. Mit der Erststimme kann er sich für einen der Kandidaten entscheiden, der sich in seinem Wahlkreis für ein Direktmandat bewirbt. Der Kandidat mit den meisten Stimmen hat gewonnen und zieht direkt in den Bundestag ein. So ist auch sichergestellt, dass alle Regionen Deutschlands im Bundestag vertreten sind.

Die Zweitstimme dagegen entscheidet über das Kräfteverhältnis der Parteien im neuen Parlament und gilt daher als die wichtigere Stimme. Gewählt werden mit den Zweitstimmen Kandidatenlisten, die die Parteien in den Bundesländern aufgestellt haben.

Dabei soll der Bundestag eigentlich 598 Abgeordnete haben, nämlich die in den 299 Wahlkreisen direkt gewählten sowie eine gleiche Zahl von Listenkandidaten, die nach dem Verhältnis der errungenen Zweitstimmen in das Parlament einziehen. Hat nun aber eine Partei mehr Direktmandate errungen, als ihr nach ihrem Zweitstimmenergebnis zustehen, kommt es zu sogenannten Überhangmandaten, die die Zahl der Abgeordneten nach oben treiben. Bei der Wahl 2009 kam es zu 24 solcher Überhangmandate, die alle der Union zufielen.

Zu den Problemen der Überhangmandate zählt nicht nur, dass sie bislang zu Abweichungen vom Ergebnis der Verhältniswahl führten. Mit diesen Mandaten war auch der paradoxe Effekt des "negativen Stimmgewichts" verbunden, bei dem mehr Stimmen für eine Partei dieser weniger Mandate bescheren beziehungsweise umgekehrt weniger Stimmen zu mehr Mandaten. "Verfassungswidrig", urteilte im Sommer 2008 das Bundesverfassungsgericht, das durch das negative Stimmgewicht "die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl" verletzt sah und vom Gesetzgeber eine Neuregelung forderte.

Eine daraufhin 2011 von der schwarz-gelben Koalition gegen die Opposition durchgesetzte Wahlrechtsreform kippten die Karlsruher Richter im folgenden Jahr ebenfalls; zugleich beschränkten sie die zulässige Zahl der Überhangmandate ohne Ausgleich auf etwa 15. Gegen die Stimmen der Linksfraktion verabschiedete der Bundestag schließlich im Februar einen Kompromiss, auf den sich die Koalition mit der SPD- und der Grünen-Fraktion verständigt hatte.

Danach wird zur Vermeidung des negativen Stimmgewichts die mit der Wahlrechtsreform von 2011 eingeführte länderweise Verteilung der Sitze auf die Landeslisten der Parteien in modifizierter Form beibehalten. Zum Ausgleich von Überhangmandaten wird "in einer zweiten Stufe der Sitzverteilung die Gesamtzahl der Sitze so weit erhöht, bis bei anschließender bundesweiter Oberverteilung an die Parteien und Unterverteilung auf die Landeslisten alle Wahlkreismandate auf Zweitstimmenmandate der Partei angerechnet werden können". wie es in dem Vier-Fraktionen-Entwurf hieß.

Überhangmandate werden also künftig dem Zweitstimmenergebnis entsprechend durch "Ausgleichsmandate" voll kompensiert, was die Zahl der Abgeordneten dann natürlich erhöht. Hätte das neue Wahlrecht schon 2009 gegolten, wären damals laut Bundeswahlleiter 671 statt 622 Mandate verteilt worden. Wie groß der nächste Bundestag nun tatsächlich wird, entscheidet sich am Sonntag.