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Besser schlafen

MINDESTLOHN Vier Millionen profitieren ab 2015. Ohne die Ausnahmen könnten es deutlich mehr sein, sagt die Opposition

07.07.2014
2023-08-30T12:26:16.7200Z
5 Min

Vielleicht war dieser Satz von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) doch etwas zu optimistisch: "Zehn Jahre streiten wir uns nun über das Für und Wider eines Mindestlohns und jetzt kommt er und das ist einen Meilenstein in der Arbeits- und Sozialpolitik der Bundesrepublik." In der Debatte über das Tarifautonomiestärkungsgesetz (18/1558, 18/2010 neu) am vergangenen Donnerstag zeigte sich nämlich, dass zumindest für die Opposition das Thema Mindestlohn mit der Verabschiedung des Gesetzes nicht vom Tisch ist. Denn die Sonderregelungen für Langzeitarbeitslose, Jugendliche und Zeitungszusteller wurden von Bündnis 90/Die Grünen und den Linken heftig kritisiert und man darf annehmen, dass beide Fraktionen versuchen werden, mit parlamentarischen Initiativen das Thema Ausnahmen am Kochen zu halten. Einstweilen hat jedoch der Bundestag diesen allgemein als "historisch" gewürdigten Beschluss mit überwältigender Mehrheit zugestimmt: In namentlicher Abstimmung votierten 535 Abgeordnete dafür, fünf dagegen und 61 Abgeordnete enthielten sich.

"Sogenannte Ausnahmen"

Schon bevor die Oppositionsfraktionen zu ihrer Kritik ansetzen konnten, versuchte Andrea Nahles, dieser den Wind aus den Segeln zu nehmen: Fakt sei, dass ab 2015 ein flächendeckender Mindestlohn gilt, ohne dass einzelne Branchen ausgenommen werden. Wer anderes behaupte, redet Unsinn, verteidigte sich die Ministerin, um im Anschluss zu den "sogenannten Ausnahmen" zu kommen. So seien zum Beispiel Zeitungsausträger "von Anfang an" im Mindestlohn drin, nur eben zunächst nicht zu 100 Prozent, sondern in Form einer Übergangslösung. "Es gibt auch keine Ausnahme für Saisonarbeiter", behauptete Nahles selbstbewusst. So seien nur die Fristen der geringfügigen, sozialversicherungsfreien Beschäftigung verändert und der Modus der Anrechnung von Kost und Logis vereinfacht worden. "Aber es gibt keine Anrechnung von Kost und Logis auf den Mindestlohn." In Bezug auf die Langzeitarbeitslosen räumte sie ein, dies sei eine "befristete Ausnahme, von der wir nicht wissen, ob sie funktioniert". Sie werde deshalb in zwei Jahren evaluiert. Wichtiger sei es aber, "über den Kern des Gesetzes zu reden, und damit darüber, dass ab Januar 2015 fast vier Millionen Arbeitnehmer besser schlafen können", sagte Nahles.

Erhöhung schon 2017

Das Tarifpaket sieht vor, erstmals in Deutschland einen flächendeckenden Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro ab 2015 einzuführen. Tarifverträge mit einem niedrigeren Brutto-Stundenlohn sollen in einer Übergangsphase jedoch bis Ende 2016 gültig bleiben können, so dass der Mindestlohn erst ab 2017 voll greift. Die geänderte Fassung des Gesetzes sieht nun vor, dass die Mindestlohnkommission nicht jährlich, sondern alle zwei Jahre über eine Anpassung des Mindestlohns, orientiert an der nachlaufenden Tarifentwicklung, entscheidet. Der Zeitpunkt der erstmaligen Erhöhung des Mindestlohns wird jedoch von 2018 auf 2017 vorverlegt. Neu sind auch separate Übergangslösungen für die Zeitungsbranche: So sollen Zeitungszusteller ab nächsten Jahr einen Anspruch auf 75 Prozent, ab 2016 auf 85 Prozent und ab 2017 dann auf 8,50 Euro pro Stunde haben. In diesem Jahr gilt jedoch für alle anderen schon ein höherer Mindestlohn als 8,50 Euro. Geändert wurden außerdem die Ausnahmeregeln für Praktikanten: Zwar sind verpflichtende Praktika im Rahmen einer Ausbildung weiter grundsätzlich vom Mindestlohn ausgenommen. Bei Orientierungspraktika vor oder während einer Ausbildung gilt jedoch, dass erst nach drei Monaten und nicht wie bisher nach sechs Wochen der Mindestlohn gezahlt werden muss. Für Praktika, die nach abgeschlossener Ausbildung gemacht werden, gilt dagegen der Mindestlohn: "Die Generation Praktikum gibt es nicht mehr", sagte Nahles dazu. Neu definiert wird darüber hinaus die geringfügige, sozialversicherungsfreie Beschäftigung. Die Möglichkeit dieser kurzfristigen Beschäftigungsform wird von 50 auf 70 Tage ausgedehnt. Allerdings ist diese Regelung auf vier Jahre befristet und beeinflusse nach Aussagen der Bundesregierung die Mindesthöhe des Lohnes nicht.

"Grottenschlechtes" Gesetz

Klaus Ernst (Die Linke) warf CDU/CSU und SPD vor, zehn Jahre lang den Mindestlohn verhindert zu haben und forderte: "Wir brauchen einen flächendeckenden Mindestlohn ohne Ausnahmen." Das Gesetz sei "grottenschlecht", weil es Unter-18-Jährige, Langzeitarbeitslose und Zeitungszusteller diskriminiere. Dafür gebe es aber gar keinen sachlichen Grund. Ohne diese Ausnahmen könnten drei Millionen Menschen mehr vom Mindestlohn profitieren, rechnete Ernst vor. "Bisher war es Grundsatz, dass man nur mit einem Tarifvertrag übergangsweise vom Mindestlohn abweichen kann und nun machen Sie für die Zeitungsbranche eine Ausnahme", empörte sich Ernst. Die Pressefreiheit in Deutschland hänge nicht von den Hungerlöhnen der Zusteller ab, wie die Regierung weismachen wolle.

"Wir haben lange dafür gekämpft, dass Wettbewerb nicht über Lohndumping ausgetragen wird, schade ist nur, dass Ihr Gesetz der historischen Dimension nicht gerecht wird", warf Brigitte Pothmer (Bündnis 90/Die Grünen) der Regierung vor. Es sei durchdrungen vom Einfluss mächtiger Lobbygruppen. Auch Pothmer kritisierte die genannten Sonderregelungen, wobei sie die Ausnahmen bei Langzeitarbeitslosen als "wirklich übel" bezeichnete. In keinem anderen Mindestlohn-Land gebe es eine solche Regelung, weil diese Gruppe zu heterogen sei, um sie über einen Kamm zu scheren. Das tue aber das Gesetz, das dadurch auch suggeriere, dass Langzeitarbeitslose "nichts können und billiger zu haben seien", ärgerte sich Pothmer.

Niemanden ärgern

Karl Schiewerling (CDU) betonte die grundsätzliche Bedeutung des Gesetzes für die Tarifautonomie in Deutschland. Nur in einem ersten Schritt lege der Staat den Mindestlohn fest, danach seien wieder die Tarifpartner dafür verantwortlich, sagte er. Mit diesem Prinzip des Ausgleichs zwischen Kapital und Arbeit sei die Bundesrepublik bisher gut gefahren und sollte deshalb daran festhalten. Schiewerling stellte klar, dass seine Fraktion die Altersgrenze für den Mindestlohn lieber auf 21 Jahre angehoben hätte. "Wir wollen die Jugendlichen nicht ärgern, aber wir wollen nicht verantwortlich sein dafür, dass sie keine Ausbildung machen", sagte er.

Für die SPD-Fraktion stand in der Debatte das große Ganze im Mittelpunkt: "Wir haben in den Koalitionsverhandlungen darauf bestanden, dass, wer Vollzeit arbeitet, auch von dieser Arbeit leben können muss. Gesagt, getan, gerecht", brachte es Katja Mast (SPD) auf einen Dreiklang. Sie wies darauf hin, dass der Mindestlohn nicht nur die Arbeitnehmer sondern auch die Steuerzahler schütze, die nun keine Dumpinglöhne mehr gegenfinanzieren müssen. Außerdem stärke der Mindestlohn jene Unternehmen, die schon heute faire Löhne bezahlen. "Deshalb ist das für uns Sozialdemokraten heute ein bewegender Tag, wir sind stolz auf dieses Gesetz", sagte Mast.

Änderungsanträge

Mit 479 Nein-Stimmen bei 122 Ja-Stimmen lehnte das Parlament einen Änderungsantrag der Linken (18/2019) ab, die verlangt hatte, die Ausnahmen für Unter-18-Jährige und für Langzeitarbeitslose zu streichen. Zwei weitere Änderungsanträge der Linken (18/2017, 18/2018) fanden ebenfalls keine Mehrheit. Damit sollte die Möglichkeit, für eine Übergangszeit durch einen Tarifvertrag von der Mindestlohn-Zahlung abweichen zu können, gestrichen werden. Auch sollte der Mindestlohn von 8,50 Euro auf zehn Euro pro Stunde angehoben werden.

Der Bundestag lehnte gegen das Votum der Opposition ferner Entschließungsanträge der Linken (18/2020) und der Grünen (18/2021) zu dem Gesetz ab. Die Linke wollte, dass der Mindestlohn für jedes Arbeitsverhältnis gilt, die Grünen plädierten ebenfalls dafür, den Mindestlohn für alle Arbeitnehmer, also auch für vormals Langzeitarbeitslose sowie Jugendliche einzuführen und keine Sonderregelungen für Zeitungsausträger und Saisonarbeitskräfte zu treffen. Gegen das Votum der Linken lehnte der Bundestag schließlich einen Antrag der Linken (18/590) ab, einen Mindestlohn in Höhe von zehn Euro pro Stunde einzuführen.