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"Beschämend und unentschuldbar"

GESCHICHTE I Gedenkstunde zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren

07.07.2014
2023-08-30T12:26:17.7200Z
6 Min

Als am Ende der Veranstaltung die Europahymne im weiten Rund des Plenarsaals des Bundestages ertönte, wird so mancher Zuhörer auch darin eine Antwort gesehen haben auf die Katastrophe, der das Parlament am vergangenen Donnerstag gemeinsam mit Vertretern aller Verfassungsorgane gedachte: dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren. Der europäische Einigungsprozess, symbolisiert durch die Hymne der EU, als Antwort auf jenes Völkerschlachten, das Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) in seiner Ansprache "den letzten konventionellen und den ersten modernen Krieg" nannte - dieser Gedanke der europäischen Antwort auf ein europäisches Trauma drängte sich auch auf beim Blick auf die Gästetribüne unter der Reichstagskuppel. Dort saß der frühere französische Staatspräsident Valerie Giscard d'Estaing neben Altbundespräsident Richard von Weizsäcker; auch nach ihrer Amtszeit Repräsentanten zweier Völker, die sich heute gerne als Motor des europäischen Einigungswerks sehen, damals jedoch, vor 100 Jahren, als "Erbfeinde" gegenüberstanden.

Apokalypse

"Für viele Deutsche und die Franzosen" sei der Erste Weltkrieg "ein deutsch-französischer Krieg" gewesen, resümierte Lammert denn auch; ähnlich formulierte es Alfred Grosser, französischer Politologe und Publizist mit deutsch-jüdischen Wurzeln, als Hauptredner der Gedenkstunde. Er verwies zugleich darauf, dass die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Deutschland "viel weniger wachgehalten" werde als in Frankreich. "Der Grund ist klar", fügte Grosser hinzu: "Der Erste Weltkrieg bleibt in Frankreich la Grande Guerre - der Große Krieg". Damals sei die Zahl der Kriegsopfer im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung auf beiden Seiten ungefähr gleich groß gewesen. Der Zweite Weltkrieg dagegen sei für Frankreich mit etwa 600.000 Toten "weniger tragisch gewesen im Vergleich zu den sieben Millionen deutscher Verluste". Wolle man einem Ausländer erklären, was der Erste Weltkrieg für Frankreich bedeutet habe, müsse man ihn nur auf den Friedhof irgendeines Dorfes führen: "Auf jedem Denkmal steht eine lange Liste der Gefallenen, oft mit mehreren Namen derselben Familie. Die Liste der Opfer von 1939 bis 1945 ist überall kurz."

Lammert erinnerte daran, dass der Erste Weltkrieg auch "in fast jeder deutschen Familie Spuren hinterlassen" hatte. Der Krieg habe Millionen Opfer gekostet, "an der Front erlebten die Soldaten die industrialisierte Apokalypse". Wer in die Schützengräben von Verdun geschickt wurde, habe "statistisch gesehen noch eine Lebenserwartung von zwei Wochen" gehabt. In der Erinnerung der Deutschen seien die Kriegsjahre von 1914 bis 1918 indes "von den späteren Schrecken der nationalsozialistischen Diktatur überlagert".

"Explosives Gemisch"

Sowohl Lammert als auch Grosser griffen die viel diskutierte Frage nach der Kriegsschuld auf, die im Versailler Vertrag 1919 von den siegreichen Westmächten allein Deutschland und seinen Verbündeten zugeschrieben worden war. Der Bundestagspräsident wies Schuldzuweisungen an einzelne der damaligen Akteure als "so simpel wie unzureichend" zurück und machte "komplexe Ursachen" des Krieges aus: "Der nationalistische und militaristische Geist in den europäischen Gesellschaften, die verfehlte Allianzpolitik der rivalisierenden Großmächte, das Wettrüsten der imperialistischen Staaten: All das bildete ein explosives Gemisch", sagte Lammert. Die Krise, die sich nach der Ermordung des Thronfolgers Österreich-Ungarns in Sarajewo im Juli 1914 zugespitzt habe, bleibe ein "Lehrstück politisch unverantwortlichen Handelns". Statt Deeskalation anzustreben, "wurde der Sprung ins Ungewisse gesucht, ebenso kalkuliert wie kopflos".

Dem Kaiserreich und deutschen Militär fielen dafür ein "hohes Maß an Verantwortung zu", fügte der Parlamentspräsident hinzu; zugleich brandmarkte er den damaligen deutschen Angriff auf das neutrale Belgien als völkerrechtswidrig, die Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung als Verbrechen, die Zerstörungen von Städten und Kulturdenkmälern als "beschämend und unentschuldbar".

Grosser sprach unter Bezug auf einen gemeinsamen Text französischer und deutscher Geschichtslehrer von 1952, in dem allen Seiten eine Mitverantwortung für den Ersten Weltkrieg zugeschrieben werde, von dem "Platz des Militärs in der Gesellschaft" als einer "deutschen Besonderheit". Zugleich hob er die Selbstverständlichkeit hervor, "mit der in Frankreich niemand mehr von deutscher Alleinschuld spricht".

Auch mit Blick auf das nationalsozialistische Deutschland erteilte der Publizist der Vorstellung einer Kollektivschuld eine entschiedene Abfuhr, "so zahlreich auch die Mörder und so schrecklich auch die Verbrechen" waren, und wertete den deutschen Widerstand gegen die NS-Diktatur als "ein Wesenselement der deutsch-französischen Nachkriegsbeziehungen". Zuvor hatte Lammert den 1925 in Frankfurt am Main geborenen Gastredner als "herausragenden Wegbereiter" der deutsch-französischen Freundschaft gewürdigt, der für das wechselseitige Verständnis beider Nationen persönlich viel geleistet habe. Grossers Leben ist in besonderer Weise mit beiden Ländern verbunden: Sein Vater, ein Veteran des Ersten Weltkriegs, teilte "das Schicksal anderer deutscher Patrioten jüdischen Glaubens, die ihrer Heimat dienten und von den Nationalsozialisten aus ihr verstoßen wurden", wie der Bundestagspräsident erläuterte. Ausgerechnet Frankreich, wo der Vater im Krieg stationiert war, habe die Familie 1933 aufgenommen.

Grosser griff diesen Hinweis auf, als er die Bedeutung schilderte, die in Frankreich dem Begriff des "ancien combattant", des Kriegsteilnehmers, zukommt. Sein Vater habe eine Art Kindersanatorium einrichten wollen, sei aber bald nach der Ankunft in Frankreich gestorben, berichtete der Sohn. Zu seiner Witwe sei der Elektriker gekommen mit den Worten "Ihr Mann hat eine große Rechnung hinterlassen. Aber er war ancien combattant. Ich war es auch. Nicht auf derselben Seite. Aber ancien combattant ist ancien combattant. Sie zahlen, wann Sie können; es hat Zeit." Es war, blickte Grosser zurück, "eine ermutigende Erfahrung der Aufnahme von uns Immigranten".

"Total anders"

Einen "großen Unterschied zwischen den beiden Weltkriegen, zwischen 1918 und 1945", sah der Publizist darin, dass "die totale Niederlage ein total anderes Deutschland hervorgebracht" habe. "Das Deutsch-Französische konnte nur gut gehen, weil die Bundesrepublik radikal anders war als das Hitler-Deutschland", sagte Grosser. Für ihn ist die Bundesrepublik ein Sonderfall in Europa: "Sie ist nämlich nicht auf dem Prinzip der Nation aufgebaut worden, sondern auf Grund einer politischen Ethik - die der doppelten Ablehnung von Hitler in der Vergangenheit und von Stalin in der Nachbartschaft". Dies sei bis heute so geblieben, betonte Grosser und zeigte sich "ein bisschen stolz" darüber, dass im vergangenen Monat in einer französischen Umfrage, wer der vertrauenswürdigste Verbündete Frankreichs sei, 82 Prozent Deutschland genannt hätten. Die Deutschen wiederum dürften stolz sein auf ihr Land, das sich nun "im Gegensatz zu 1914 auf die Werte Einigkeit und Recht und Freiheit" berufe.

Zugleich wies Grosser Kritik an der Forderung von Bundespräsident Joachim Gauck nach mehr Engagement Deutschlands in der Sicherheitspolitik zurück. Wer Gauck "dafür aus Ultrapazifismus kritisiert, übersieht, dass ohne die Landung in der Normandie und ohne die Rote Armee es keine freie deutsche Bundesrepublik geben würde", sagte er.

Kritik an Krim-Annexion

Lammert betonte, Deutschland habe gelernt, "dass militärische Maßnahmen grundsätzlich kein geeignetes Mittel politisch gewollter Veränderungen sind und wenn überhaupt nur das letzte Mittel der Konfliktbeilegung sein dürfen". Vor 100 Jahren habe die "machtbesessene Forderung nach dem ,Platz an der Sonne'" in die Katastrophe geführt. Heute nehme Deutschland "die von der Staatengemeinschaft eingeforderte und sichtbar gewachsene Rolle unseres Landes in der Welt aus Verantwortung für Frieden, Freiheit und Menschrechte zögernd und mit erkennbarer Zurückhaltung wahr". Dabei sei das Land "eingebunden in ein Bündnis- und Sicherheitssystem befreundeter Staaten, das wir offensichtlich weiter brauchen", unterstrich der Bundestagspräsident.

Mit Blick auf die aktuelle Krise in der Ukraine beklagte er, dass mit den dortigen Ereignissen in der Ukraine und der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland die territoriale Integrität souveräner Staaten in Europa erstmals wieder in Frage gestellt werde. "Trotz der Entschlossenheit, mutwillige und völkerrechtswidrige Veränderungen an Europas Grenzen nicht hinzunehmen", wolle jedoch niemand deshalb einen Krieg, unterstrich Lammert. Dies unterscheide die heutige Lage entscheidend von 1914.

Zwischen den "jeweils kategorischen Ansprüchen von Frieden und Freiheit" gebe es "keine glatten Lösungen", fügte der Parlamentspräsident hinzu. Niemand in Europa habe jedoch eine größere Verpflichtung und Verantwortung als Deutschland, sich immer wieder um solche Lösungen zu bemühen. Auch wenn die Erinnerungen der Europäer an die "Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts" immer unterschiedlich blieben, bleibe der wichtigste Sinn des gemeinsamen Gedenkens an zwei Weltkriege in einem Jahrhundert "die beispielhafte europäische Erfahrung, der Gewalt ein Ende gesetzt zu haben". (Wortlaut der Reden in der Debattendokumentation)