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Weg, nur weg!

ausreisewelle Die ungarische Regierung riss das erste Loch in den Eisernen Vorhang - die Massenflucht aus der DDR begann

28.07.2014
2023-08-30T12:26:17.7200Z
6 Min

Mai 1989. "Hier ist auch Deutschland", empört sich der Gastgeber, als dem Besuch aus dem Westen ein "morgen geht es schon wieder zurück nach Deutschland" herausrutscht. Das gesamtdeutsche Empfinden, Meinungsumfragen bestätigen das später, ist im Osten stärker ausgeprägt als im Westen. Für das SED-Regime ist das seit jeher ein erhebliches Problem. Denn sehr viel mehr DDR-Bürger als Bürger anderer Warschauer-Pakt-Staaten fliehen in den Westen oder versuchen es. Die Angst, die eigene Bevölkerung zu verlieren, ist vielleicht einer der Gründe, warum sich die Führung der DDR derart gegen die Reformpolitik des sowjetischen KP-Chefs Michail Gorbatschow sperrt. Auf jeden Fall ist diese Reformverweigerung aber ein Grund für weiter zunehmende Unzufriedenheit im Volk - und den immer stärkeren Wunsch, das Land zu verlassen.

Rentner dürfen raus

Seit dem Abschluss der innerdeutschen Verträge von 1972 sind DDR-Bürgern Westreisen aus bestimmten familiären Gründen theoretisch möglich. Tatsächlich werden die Bestimmungen aber extrem restriktiv gehandhabt. Faktisch bekommen fast nur Rentner eine Erlaubnis, da man sie als Kostgänger des Staates gerne los sein möchte. Einen Antrag auf "ständige Ausreise" kann zwar jeder stellen, aber er muss dann mit erheblichen Schikanen, insbesondere am Arbeits- oder Ausbildungsplatz, und einer hohen Wahrscheinlichkeit der Ablehnung rechnen.

In der Endphase der DDR kommt es immer häufiger zu Protesten von Ausreisewilligen. Seit Herbst 1987 nutzen Leipziger die Anwesenheit von West-Medien während der Messe, um für ihre Ausreise zu demonstrieren. So auch am 13. März 1989 während der Frühjahrsmesse. Rund 300 DDR-Bürger gehen nach einem Friedensgebet in der Nikolaikirche auf die Straße und rufen in Sprechchören: "Wir wollen raus!" Die Staatssicherheit versucht daraufhin, mit der Aktion "Auslese" Druck aus dem Kessel zu nehmen. Bis zum Kirchentag im Juli 1989 soll 4.000 Antragsstellern aus Leipzig und Umgebung die Ausreise gestattet werden. Doch die erhoffte Wirkung bleibt aus. Stattdessen kommen immer mehr Menschen zu den Friedensgebeten.

Eine Möglichkeit, dem Ausreisebegehren nachzuhelfen, ist die Flucht in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin oder eine westdeutsche Botschaft in einem anderen Ostblockland. Wegen des öffentlichen Aufsehens solcher Fälle wurde "Botschaftsbesetzern" in den zurückliegenden Jahren immer wieder Straflosigkeit und baldige Ausreise zugebilligt. Im Lauf des Jahres 1989 nimmt die Zahl der Botschaftsflüchtlinge allerdings rasant zu. Als Anfang August 1989 bereits 131 DDR-Bürger in der Bonner Vertretung in Ost-Berlin ausharren, signalisiert die DDR-Führung, dass diese die letzten sein würden, die man auf diesem Weg ausreisen lässt. Am 8. August 1989 schließt die Ständige Vertretung angesichts der unhaltbaren Zustände ihre Tore für neue Flüchtlinge.

Botschaften dicht

Am 14. August macht auch die ähnlich überfüllte Botschaft in Budapest dicht und am 22. August die Botschaft in Prag. Doch nun überklettern immer mehr Flüchtlinge den Zaun zum Botschaftsgelände. Die tschechoslowakische Polizei strengt sich nicht sonderlich an, sie daran zu hindern. Der Botschaftsgarten wird zum Zeltlager. In Budapest das Gleiche. Dort erlaubt die Regierung sogar die Errichtung von Zeltlagern außerhalb des Botschaftsgeländes, zunächst auf dem Grundstück einer Pfarrei, dann in einem Pionierlager und schließlich am Plattensee. Die Zahl der Flüchtlinge steigt rasant: Am 28. August sind es 1.400, am 2. September 3.500, am 4. September 4.700. Viele Ungarn helfen ehrenamtlich bei der Versorgung der Flüchtlinge.

Zu diesem Zeitpunkt ist der Eiserne Vorhang in Ungarn längst löchrig geworden. Bereits Ende 1988 hat der neue, reformorientierte Ministerpräsident Miklós Németh die Wartungskosten für die elektronischen Grenzsperren an der 350 Kilometer langen Grenze zu Österreich aus dem Staatshaushalt gestrichen. Da die Ungarn seit Anfang 1988 frei reisen dürfen, dienen sie ohnehin fast nur noch dazu, der DDR beim Einsperren ihrer Bürger zu helfen. Am 28. Februar 1989 dann hat die ungarische KP beschlossen, diese Systeme ganz abzubauen, und dafür die Zustimmung von Gorbatschow erhalten. Seit dem 2. Mai wird demontiert.

Am 27. Juni durchtrennen die Außenminister Ungarns und Österreichs, Gyula Horn und Alois Mock, symbolisch und unter den Augen zahlreicher Kameras den Grenzzaun in der Nähe von Sopron. Diese Bilder lösen eine neue Reisewelle von DDR-Bürgern nach Ungarn aus. Zwar wird die Grenze noch bewacht, aber die ungarischen Grenztruppen sind angewiesen, nur noch zur Selbstverteidigung zu schießen. Hunderten DDR-Bürgern gelingt die Flucht.

Am 19. August findet eine noch spektakulärere Aktion statt. Die Paneuropa-Union (PEU), eine nach dem Ersten Weltkrieg gegründete gesamteuropäische Einigungsbewegung, hat zusammen mit dem Ungarischen Demokratischen Forum zu einem "Paneuropäischen Picknick" an der ungarisch-österreichischen Grenze geladen. Schirmherren sind der PEU-Präsident und CSU-Europa-Abgeordnete Otto von Habsburg sowie der ungarische Staatsminister Imre Poszgay. Während der Veranstaltung wird das Grenztor zwischen St. Margareten und Sopron für mehrere Stunden geöffnet. 661 DDR-Bürger, durch Flugblätter an ihren Ferienorten informiert, gelangen zu Fuß mit dem, was sie bei sich tragen, nach Österreich. Die fünf ungarischen Grenzer, die hier Dienst tun, um österreichischen Besuchern Tagesvisa auszustellen, lassen sie gewähren.

Nur zwei Tage später erschießt ein junger ungarischer Grenzsoldat einen Architekten aus Weimar beim Fluchtversuch. Die ungarische Führung handelt nun schnell. Am 24. August dürfen 108 Botschaftsflüchtlinge nach Österreich ausfliegen, von dort geht es per Bus zum Notaufnahmelager Zirndorf bei Nürnberg. Tags darauf sind Ministerpräsident Németh und Außenminister Horn zu einem streng geheimen Treffen mit Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) und Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) auf Schloss Gymnich, dem Gästehaus der Bundesregierung. Dabei sagt Nemeth zu, dass Ungarn seine Grenze öffnen werde und bis Mitte September alle DDR-Bürger ausreisen könnten, sofern "uns keine militärische oder politische Kraft von außen zu einem anderen Verhalten zwingt". Dass dies nicht der Fall sein wird, erfährt Kohl tags darauf mit einem Anruf bei Gorbatschow. Dieser kommentiert die beabsichtige Grenzöffnung mit den Worten: "Die Ungarn sind gute Leute." In der Nacht zum 11. September ist es so weit. In den Folgetagen überqueren zehntausende Menschen aus der DDR die ungarische Grenze nach Österreich. Der Eiserne Vorhang hat nun ein Loch, das nicht wieder zugeht.

Wenige Wochen später geht ein Kreischen, lauter als beim Konzert eines Teenie-Idols, um die Welt. Es kommt aus fast 6.000 Kehlen im Garten der bundesdeutschen Botschaft in Prag. "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise" - mehr ist nicht mehr zu verstehen von dem, was Außenminister Genscher am Abend des 30. September vom Balkon der Botschaft herab verkündet. Nicht nur den Menschen unten schießen Tränen in die Augen, auch Fernsehzuschauern weltweit, die diese Szene wieder und wieder zu sehen bekommen. In den Verhandlungen, die Genschers Auftritt vorausgingen, hat die DDR zur Gesichtswahrung darauf bestanden, dass die Ausreise über ihr Staatsgebiet erfolgt. Von nun an fahren täglich mehrere Sonderzüge von Prag über DDR-Gebiet ins bayerische Hof.

Weil sich zudem die Bonner Botschaft in Prag ständig wieder mit neuen Flüchtlingen füllt, macht die DDR-Führung am 3. Oktober 1989 die Grenze zur Tschechoslowakei dicht. Da seit längerem auch schon Reisen nach Polen kaum mehr möglich sind, sind die Menschen in der DDR nun fast völlig eingesperrt. Dies heizt die ohnehin brodelnde Stimmung weiter an. Mit dem Ruf "Wir wollen raus" blockieren am 4. Oktober mehr als 5.000 Demonstranten den Dresdner Hauptbahnhof.

Freilassungen

Es dauert nicht mehr lange, bis die Machtstrukturen in der DDR ins Wanken geraten. Erich Honecker darf noch, neben einem eisigen Michail Gorbatschow stehend, am 7. Oktober die Parade zum 40. Jahrestag der Republik abnehmen. Zehn Tage später stürzt ihn die Parteiführung und ersetzt ihn durch Egon Krenz. Dieser ordnet am 27. Oktober die Freilassung aller inhaftierten "Republikflüchtlinge" an.

Am 3. November bricht im Garten der bundesdeutschen Botschaft in Prag erneut Jubel aus. Zwar ist es diesmal nur der stellvertretende Botschafter, der auf dem Balkon steht, aber die Nachricht, die er den 5.000 Menschen unten verkündet, ist noch weitgehender: Ab sofort dürften Flüchtlinge ohne Genehmigung der DDR direkt in die Bundesrepublik ausreisen. Da auch die DDR ihren Bürgern wieder Reisen in die CSSR erlaubt, wälzt sich von nun an eine Trabant- und Wartburg-Karawane aus der DDR über die Tschechoslowakei nach Bayern. Binnen zwei Tagen gelangen allein auf diesem Weg mehr als 23.000 Menschen in den Westen. Ab dem 9. November ist auch dieser Umweg nicht mehr nötig.

"Wenn ich Rentner bin, komme ich zum Gegenbesuch", hatte der nicht mal vierzigjährige Gastgeber dem abreisenden Westbesuch versprochen, damals im Mai 1989. Im November stand sein Trabi in Bonn vor der Tür.