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Das Ende der Ära Honecker

MACHTKAMPF Demonstranten erzwingen im Herbst 1989 den Rückzug der SED-Regierungselite

28.07.2014
2023-08-30T12:26:17.7200Z
4 Min

Wut, Verzweiflung, Frust und Angst: Erich Honecker kann an diesem Montag die Emotionen der Menschen nicht nur sehen, er kann sie auch hören. Auf Monitoren beobachtet er am 16. Oktober 1989 vom Lagezentrum des DDR-Innenministeriums in Berlin aus, wie etwa 120.000 Demonstranten durch Leipzig ziehen. Sie fordern freie Wahlen, Reise- und Pressefreiheit. Ein System aus Mikrofonen, Kabeln und Lautsprechern überträgt die Rufe von Leipzig nach Berlin: "Keine Gewalt!", "Wir sind das Volk!"

Es ist ein erschütterndes Bild, das sich Honecker bietet. Sein Lebenswerk zerfällt. Soll er die Demonstrationen niederschlagen lassen? Am 17. Juni 1953 hatte das SED-Regime Proteste mit sowjetischer Hilfe niedergewalzt. Die Chinesen hatten erst im Juni 1989 einen Volksaufstand blutig beendet. Honecker schaut, hört, überlegt. Wahrscheinlich weiß der 77-Jährige, dass am Ausgang der Proteste auch seine Zukunft hängt.

Hardliner

Seit 18 Jahren ist er die zentrale politische Figur in der DDR. 1971 hatte er Walter Ulbricht gestürzt und sich als dessen Nachfolger zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees der SED ausrufen lassen. Nun muss Honecker erkennen, wie sehr er sich vom Volk entfernt hat. Oder die Menschen sich von ihm. Schon wenige Tage zuvor war ihm Ablehnung entgegengeschlagen: Bei den Feiern zum 40. Geburtstag der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober waren Mitglieder der Jugendorganisation FDJ an ihm und dem KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow vorbeimarschiert und hatten vor allem den sowjetischen Reformer bejubelt, nicht ihn, den rückwärtsgewandten Hardliner.

Machtkampf

Gemeinsam mit Honecker sind das Politbüromitglied Egon Krenz und der Chef des Ministeriums für Staatssicherheit, Erich Mielke, ins Lagezentrum gekommen. Und während Honecker die Bilder der Demonstranten sieht, die Sprechchöre hört, wissen die beiden anderen Männer längst, dass dies wohl der letzte gemeinsame Besuch an diesem Ort ist.

Schon seit Tagen tobt im Politbüro des Zentralkomitees der SED ein Machtkampf, der sich an der Frage entzündet hat, wie man mit den Demonstranten umgehen soll. Nun wollen Krenz und Mielke Honecker am nächsten Tag bei einer Sitzung des Politbüros absetzen. Nachdem die Lage in Leipzig nicht eskaliert ist, weil die Demonstranten friedlich geblieben sind und die SED-Führung keine Gewalt anordnet, verlässt Honecker das Innenministerium. Krenz trifft letzte Vorbereitungen für das Ende einer Ära.

In kurzer Zeit hatte Honecker nach dem politischen Ende Ulbrichts seine Macht gefestigt. Noch 1971 wurde er Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR. 1976, als sein SED-Amt von "Erster Sekretär" in "Generalsekretär" umbenannt wurde, stieg er zudem zum Vorsitzenden des DDR-Staatsrats auf. Der Bergarbeitersohn aus dem saarländischen Neunkirchen vereinte seit damals die wichtigsten Partei- und Staatsämter im sozialistischen Teil Deutschlands auf sich. Wie kein zweiter prägte er auf diese Weise das Leben im Inneren des Landes und auch die Außendarstellung der kommunistisch regierten DDR in den 1970er und 1980er Jahren.

Die Sitzung des Politbüros am Morgen des 17. Oktober 1989 verläuft zunächst nach dem üblichen Schema. Der SED-Funktionär Gerhard Schürer fertigt während des Treffens Notizen, die als verlässliche Quelle dafür gelten, was hinter den verschlossenen Türen passiert: Nachdem Honecker in geschäftsmäßig-routiniertem Tonfall fragt, ob es Anmerkungen zur Tagesordnung gebe, meldet sich der Vorsitzende des Ministerrates, Willi Stoph, und beantragt, als ersten Tagesordnungspunkt die Absetzung Honeckers und die Übergabe der Macht an Krenz zu behandeln. Honecker erstarrt, fängt sich aber wieder. Als gehe es um die Beratung eines Wohnungsbauprogramms, eröffnet er sodann die Aussprache zu seinem Sturz. Stoph soll bei dieser Debatte gesagt haben: "Erich, es geht nicht mehr. Du musst gehen."

Abberufung

Niemand stellt sich in den nächsten Minuten hinter Honecker. Nur er selbst ergreift für sich Partei und attackiert seine Genossen mit Worten der Verbitterung. Er habe nie erwartet, dass sich so enge Wegbegleiter wie Mielke oder der ZK-Sekretär für Wirtschaftsfragen, Günter Mittag, von ihm abwenden würden. "Ich sage das nicht als geschlagener Mann, sondern als Genosse, der bei bester Gesundheit ist." Honecker leidet da schon an jenem Krebs, an dem er fünf Jahre später sterben wird. Dann stimmt er seiner eigenen Abberufung zu.

Der Potsdamer Historiker Martin Sabrow nannte Honecker einen zwar in der öffentlichen Repräsentation blassen, aber ungemein mächtigen Mann. Seine Legitimation als politischer Führer speiste sich immer auch aus seinem Widerstand gegen die Nationalsozialisten. Während der NS-Diktatur war er 1937 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Von dieser Macht ist ihm nun aber nichts mehr geblieben. Einen Tag später, am 18. Oktober 1989, bittet Honecker in einer eilig einberufenen Sitzung des ZK selbst um seine Entlassung. Kurz vor der Zusammenkunft der ZK-Funktionäre hat er seinen persönlichen Sekretär Frank-Joachim Herrmann über diesen erzwungenen Schritt informiert. Seit 1968 schon arbeitet Herrmann für Honecker. Bei der letzten Begegnung mit seinem Chef sei dieser wortkarg, nüchtern und ruhig gewesen, erinnerte sich Herrmann später. "Das war bei ihm immer das Zeichen, dass ihn etwas sehr beschäftigt oder getroffen hatte." Das ZK stimmt der Abberufung Honeckers zu. Dann spenden ihm die SED-Kader Applaus. Honecker packt seine Sachen und geht. Herrmann sieht den Mann, für den er 21 Jahre gearbeitet hat, nie wieder.

Parallelen

Honecker muss die Choreografie seines Abganges vertraut gewesen sein. So wie er gestürzt wurde, hatte er selbst den Sturz Ulbrichts inszeniert - mit einer wichtigen Ausnahme: Ulbricht war von seinen Genossen abgesetzt worden. Honecker hatten seine Parteifreunde zwar abberufen. Entmachtet hatten ihn aber die DDR-Bürger mit ihrem Protest. Honeckers Nachfolger Egon Krenz geht es bald ähnlich. Weiterhin ziehen die DDR-Bürger zu Zehntausenden durch die Straßen und fordern tiefgreifende Reformen. Am 7. November tritt Stoph mit seinen Ministern zurück, am 8. November tritt das Politbüro ab und am 9. November fällt in Berlin die Mauer.