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GESCHICHTE : Einsichten und Tatsachen

Bundestag und Bundesrat erinnern in einer Gedenkstunde an den 70. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1945

11.05.2015
2023-08-30T12:28:02.7200Z
5 Min

Es war "seine" Rede, "sein" Satz: "Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung." 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sprach der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 diese inzwischen als historisch geltenden Worte vor dem Bundestag. Sie wurden gewissermaßen zum Markenzeichen seiner Präsidentschaft und schließlich zu einem Satz, der von einer breiten Mehrheit der Deutschen geteilt wird. 1985 war das noch anders.

Die Gedenkveranstaltung des Bundestages und Bundesrates zum nun mittlerweile

70. Jahrestags des Kriegsendes führte das den zahlreichen Zuschauern, darunter auch hochbetagte Zeitzeugen, die als alliierte Militärs diese Befreiung erkämpft hatten, noch einmal klar vor Augen. Denn alle drei Redner, angefangen von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), über den Hauptredner, den Historiker Heinrich August Winkler, bis zum Bundesratspräsidenten Volker Bouffier, bezogen sich auf diese Weizsäcker-Worte. Und sie ließen an der Überzeugung keinen Zweifel, dass die Auseinandersetzung mit diesem Teil deutscher Geschichte niemals zu Ende sein kann.

"Unter eine solche Geschichte lässt sich kein Schlussstrich ziehen", sagte etwa Winkler. Er erinnerte an die mindestens 800.000 Toten der Belagerung Leningrads, an den Tod fast der Hälfte der 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, an Massaker in Italien und Griechenland. "Es gibt keine moralische Rechtfertigung dafür, die Erinnerung an solche Untaten in Deutschland nicht wachzuhalten und die moralischen Verpflichtungen zu vergessen, die sich daraus ergeben", betonte der Historiker.

Bereitschaft zur Versöhnung Bundestagspräsident Norbert Lammert verwies darauf, dass der 8. Mai kein Tag der deutschen Selbstbefreiung gewesen sei und gerade deshalb die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit zu "einem schmerzhaften Prozess der inneren Befreiung" wurde, um sich dieser Geschichte zu stellen. "Nur im Bewusstsein unserer bitteren Erfahrungen können wir Gegenwart und Zukunft politisch verantwortungsvoll gestalten", mahnte Lammert. Die Deutschen hätten ihren Platz in der Völkergemeinschaft aber nie gefunden ohne die "Bereitschaft unserer Nachbarn zur Versöhnung", die historisch ebenso beispiellos sei, wie die Katastrophe, die ihr vorausgegangen sei. Der Fall der Deutschen hätte nicht tiefer sein können, "um so erstaunlicher ist es, dass unser Land trotz seiner Schuld aufgefangen wurde", betonte der Bundestagspräsident.

Wie sehr das Erinnern an 1945 zu einem Politikum geworden ist, das von aktuellen geopolitischen Konflikten, insbesondere dem in der Ostukraine, überlagert wird, war in den vergangenen Wochen und Monaten gut zu beobachten. Allein die Frage, wie sich Deutschland in Bezug auf die zentrale russische Siegesfeier verhalten sollte, wurde zum diplomatischen Drahtseilakt. Eine Teilnahme daran würde von der Ukraine als Affront gewertet werden können, so die Befürchtung. Andererseits wollte die Bundesregierung des russischen Beitrags und der russischen Opfer des Weltkrieges angemessen gedenken. Die Folge: Kanzlerin Merkel nahm zwar nicht an der Militärparade am 9. Mai in Moskau teil, reiste aber gestern in die russische Hauptstadt, um gemeinsam mit Russlands Präsident Wladimir Putin einen Kranz am Grabmal des unbekannten Soldaten niederzulegen. Noch vor zehn Jahren saßen nicht nur der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, sondern auch die Präsidenten der USA und Frankreichs als Ehrengäste auf der Moskauer Tribüne - neben Putin.

Besondere Pflicht Wenig verwunderlich ist also, dass auch die Gedenkstunde des Bundestages nicht umhin kam, auf das angespannte Verhältnis zwischen Russland und dem Westen und der Rolle der Bundesrepublik in diesem Konflikt einzugehen. Deutschland habe unter Führung Hitlers nicht nur die territoriale Integrität vieler Staaten mit Füßen getreten, sondern durch den Hitler-Stalin-Pakt, den Angriff auf Polen und den Überfall auf die Sowjetunion den Grundstein für die Jahrzehnte dauernde Spaltung Europas gelegt. "Daraus ergibt sich eine besondere Pflicht zur Solidarität mit Ländern, die erst im Zuge der friedlichen Revolutionen 1989/90 ihr Recht auf innere und äußere Selbstbestimmung wiedergewonnen haben", sagte Winkler.

Diese Position verband er, wie schon in zurückliegenden Äußerungen, mit einer deutlichen Kritik gegenüber Russland, dessen Annexion der Krim nicht nur völkerrechtswidrig sei, sondern die europäische Friedensordnung radikal in Frage stelle, so der Historiker Winkler.

Er sparte auf der anderen Seite nicht mit Lob für die Politik der Bundesregierung und unterstrich dadurch noch einmal den staatstragenden Impetus seiner Rede. So habe Deutschland während des Ukraine-Konfliktes "alles getan, um den Zusammenhalt der EU und des Atlantischen Bündnisses zu sichern" und sich bemüht, "so viel wie möglich von jener Politik der konstruktiven Zusammenarbeit zu retten oder wiederherzustellen, auf die sich Ost und West nach dem Ende des Kalten Krieges verständigt hatten". Dies sei aber auch die Pflicht Deutschlands, dem innerhalb der EU schon aufgrund seiner Bevölkerungszahl und seiner Wirtschaftskraft eine besondere Verantwortung für den Zusammenhalt und die Weiterentwicklung dieser supranationalen Gemeinschaft zufalle, mahnte er. Auch Lammert bewertete das Jahr 2014 als "weltpolitische Zäsur", die deutlich mache, "dass aus der Geschichte gewonnene, als unumstößlich geltende Überzeugungen erneut ins Wanken geraten".

Würde des Menschen Heinrich August Winkler beschränkte sich jedoch nicht auf die Außenpolitik, um zu verdeutlichen, welche Lehren das Land aus seiner Geschichte ziehen sollte. Die Ausbrüche von Fremdenfeindschaft, die Deutschland in den vergangenen Monaten erlebt habe, "mahnen uns zu jeder Zeit, die eigentliche Lehre der deutschen Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 zu beherzigen: die Verpflichtung, unter allen Umständen die Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen zu achten", sagte Winkler unter Applaus der versammelten Zuhörer.

Volker Bouffier, hessischer Ministerpräsident und in dieser Funktion Vorsitzender der Länderkammer, betonte, der 8. Mai "verpflichtet uns, den Anfängen zu wehren und immer wieder deutlich zu machen, dass in Deutschland kein Platz für jene ist, die diese Demokratie bekämpfen und Menschenrechte missachten. Das gilt für Extremisten aller Art und insbesondere für diejenigen, die als ewig gestrige oder als neue Anhänger des nationalsozialistischen Ungeists ihr Unwesen treiben".

Wie Winkler so appellierte auch Bouffier an den europäischen Zusammenhalt: "Die Europäische Union war und ist die richtige Antwort auf das Inferno zweier Weltkriege. Grenzen zu überwinden, ohne Kriege

gegensätzliche Interessen auszugleichen und gemeinsame Interessen wahrzunehmen, darin liegt die fundamentale Bedeutung dieses vereinten Europas", sagte Bouffier. (die Rede im Wortlaut in der "Debattendokumentation" dieser Ausgabe)