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Zuwanderung : Aus Notwehr wird Klugheit

Die deutsche Gesellschaft hat ihre Vorteile durch Immigration erkannt

05.01.2015
2023-11-08T12:32:56.3600Z
6 Min

Im Osten Deutschlands demonstriert seit Wochen die „Pegida“. Es begann mit einigen hundert Menschen, mittlerweile ziehen unter dem gut beleumdeten Slogan „Wir sind das Volk“ Tausende durch die Straßen, montags in Dresden, aber inzwischen auch anderswo. Die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ tragen ihr Programm im Namen, Politiker etablierter Parteien sind alarmiert. Der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD) macht sich „Sorgen, dass diese Gruppierungen aggressiv Stimmung machen“ auf dem Rücken von Flüchtlingen. „Wir müssen aufmerksam bleiben und dafür sorgen, dass dies bei uns keinen Nährboden findet.“

So ähnlich sehen sie das auch bei der CSU. Zwar wackelte die Regierungspartei kurz und bedurfte erst einer Welle von Hohn und Spott, damit sie von ihrer Forderung abrückte, dass Zuwanderer zuhause deutsch sprechen müssten. Nun sollen die Fremden, die dauerhaft hier leben möchten, nur noch „motiviert werden, im täglichen Leben deutsch zu sprechen“.

Dass das Ganze nicht glücklich gelaufen ist, räumen führende Parteilinge ein. Denn eigentlich steht auch die CSU hinter dem bundesdeutschen Konsens, zu dem die demokratischen Parteien in den vergangenen Jahren schleichend gefunden haben: Migranten, Flüchtlinge oder Asylsuchende nicht zunächst als Problem zu sehen, sondern vielleicht sogar als Chance.

Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) widmete kürzlich vor dem Arbeitgebertag in Berlin einen Teil der knappen Redezeit seines Grußworts Flüchtlingen, die sich in großer persönlicher Not bis nach Deutschland durchgeschlagen hätten und denen es nun zu helfen gelte.

Auch in der Bevölkerung ist im Zusammenhang mit den Bürgerkriegsflüchtlingen, die derzeit vor allem aus Syrien, Somalia, Afghanistan und anderen zerrissenen Staaten kommen, eine große Hilfsbereitschaft auszumachen. Als im Herbst 2014 das Versagen der Politik deutlich wurde, sich auf den abzusehenden Ansturm vorzubereiten und selbst im gewöhnlich gut organisierten und finanziell vergleichsweise gut gepolsterten Bayern die Unterkünfte überquollen und dann die Menschen die Nächte im Freien verbringen mussten, da war die öffentliche Resonanz eben nicht, wie vielleicht zu erwarten, eine Abwehrhaltung nach dem Motto „Na seht Ihr: Das Boot ist voll“, sondern häufig ein „Wir helfen alle mit“.

In der Welt angekommen Die Deutschen, wagt man vorsichtig zu hoffen, sind mehrheitlich in der Welt angekommen, sie öffnen ihre Grenzen – für Flüchtlinge, aber auch für Zuwanderer aus anderen Staaten Europas. Nach Zahlen der Industrieländerorganisation OECD ist die Zuwanderung hierzulande im vergangenen Jahr so stark angestiegen wie nirgends sonst. Rund 465.000 Menschen kamen dauerhaft nach Deutschland, doppelt so viele wie 2007. Seitdem ist der Anteil Deutschlands an der dauerhaften innereuropäischen Migration von weniger als neun auf 35 Prozent regelrecht explodiert. Deutschland ist mittlerweile das zweitbeliebteste Ziel von Migranten weltweit.

Damit einher geht, dass die Zuwandererdebatte – endlich – über die moralische Ebene hinaus greift, sie wird nun auch wirtschaftlich geführt. Das ist nicht besser, hat aber eine nachhaltigere Wirkung. „Wir müssen diesen armen Menschen helfen“: Wer derart barmherzig argumentiert, weiß die Moral auf seiner Seite, hat aber schnell den Zeitgeist gegen sich, wenn es unbequem wird. Wenn die Erkenntnis um sich greift, dass es sich auch wirtschaftlich für die Deutschen lohnt zu helfen, festigt sich die Position der Hilfswilligen. Die Argumente liegen schon lange bereit, nun finden sie auch gebührende öffentliche Aufmerksamkeit. Deutschland ist keine Insel, kann sich nicht mit seinem Wohlstand verbarrikadieren. In die moderne Welt kommen Menschen, wenn sie nur verzweifelt genug sind, so oder so. Wer sie aufhalten will, müsste zu menschenverachtenden Maßnahmen bereit sein.

Jetzt wird praktisch jeder aufgenommen, findet sich zum Beispiel in überfüllten italienischen Lagern, wird von den Behörden wieder auf freien Fuß gesetzt mit der stillschweigenden Aufforderung, sich doch bitte nach Norden durchzuschlagen – gegen die Regeln der Dublin-Vereinbarungen der EU. Zum Beispiel nach Deutschland, dem starken Mann in Europa. Dahin, wo noch Geld ist inmitten der europäischen Schuldenkrise. Das kann man mit Blick auf Italien unsolidarisch nennen, einen Verstoß gegen europäische Gebote. Man kann es auch Notwehr nennen. Oder Klugheit. Denn Deutschland braucht Zuwanderung. Die Wirtschaft vermisst den Nachwuchs, die Sozialsysteme erst recht. Noch gibt es in Deutschland 50 Millionen Arbeitsfähige, doch die Zahl sinkt rasch. 2030 werden es unter heutigen Annahmen nur noch 40 Millionen sein. Nicht von ungefähr betont Eric Schweitzer, der Präsident aller Industrie- und Handelskammern des Landes, die Wirtschaft brauche „jeden einzelnen Migranten“.

Am konkretesten wird das neue Denken mit Blick auf die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die derzeit in steigender Zahl aus dem kriegerischen Nahen Osten zu uns kommen. Die psychologische Situation dieser allein gelassenen, von ihren Familien getrennten jungen Menschen ist unerträglich – einerseits. Sie sind aber auch, das berichten jene, die mit ihnen zu tun haben, häufig außergewöhnlich motiviert, leistungswillig, zielstrebig. Wer sich alleine bis nach Deutschland durchgeschlagen hat, will kein Opfer sein, sondern sein Schicksal in die Hand nehmen.

Ihnen zu helfen, macht sich beispielsweise die von dem Unternehmensberater Roland Berger ins Leben gerufene gleichnamige Stiftung anheischig. Eine Stiftung, die sich auf die Bildung und Ausbildung benachteiligter Jugendlicher konzentriert und hier ein lohnendes Feld sieht. Die jungen Menschen sollen rasch deutsch lernen, sich integrieren, in die Schule gehen, dann in eine Ausbildung oder gerne auch ins Studium.

Viele, die den Zustrom von Ausländern kritisieren, gehen von falschen Voraussetzungen aus, reden über einen Angriff aufs deutsche Sozialsystem. Ja, es gibt welche, die Hilfe suchen und zu mehr nicht willens oder in der Lage sind – aber es sind weniger als man denkt. Die Armutszuwanderung wird notorisch überschätzt. Nur fünf Prozent der Menschen kommen von außerhalb der EU. Innerhalb der EU stellen die Rumänen das stärkste Kontingent, aber auch von diesen haben viele – ein Viertel und mehr – hohe Qualifikation, arbeiten zum Beispiel als medizinisches Personal in deutschen Krankenhäusern. Auch kommen viele (gut ausgebildete) Spanier oder Griechen, die durch die Wirtschaftskrise und die hohe Jugendarbeitslosigkeit in ihren Heimatländern vermehrt nach Deutschland drängen, weil sie hierzulande bessere Perspektiven sehen. Auch viele der Syrier sind bestens ausgebildet und qualifiziert einsetzbar.

Probleme bei Integration Eine Studie der Bertelsmann Stiftung mit dem Wirtschaftsforschungsinstitut ZEW in Mannheim weist nach, was Ökonomen seit jeher wissen: Migration ist der beste Weg gegen Armut – für die Migranten, aber auch für die Zielländer. Hier lebende Ausländer – 6,6 Millionen sind das zur Zeit – führen nach dieser Studie deutlich mehr an den Staat ab, als sie an Sozialleistungen beziehen. Im Schnitt sind es pro Ausländer im Jahr 3.300 Euro mehr an Steuern und Sozialabgaben als staatliche Leistungen. Mehr als die Hälfte der Neuankömmlinge hat einen Job, 36 Prozent sogar einen mit hoher Qualifikation.

Es spricht also alles dafür, Zuwanderung als Chance zu sehen, nicht als Risiko. Natürlich gibt es Probleme bei der Integration, gibt es Abschottung, Gewaltpotenzial, Extremismus. Wo gibt es das nicht, wenn Menschen in großer Zahl entwurzelt sind? Darauf aber kann man abwehrend reagieren oder konstruktiv. Alles spricht dafür, dass der neue Realismus, zu dem immer mehr Deutsche finden, der richtige Weg ist – wenn er klug beschritten wird.

Die Art und Weise, wie sich Stiftungen, Vereine und auch der Staat im Moment besonders um die unbegleiteten jugendlichen Flüchtlinge kümmern, ist vielversprechend und hat Vorbildcharakter. Der Staat darf von Bildung nicht nur reden, sondern sollte handeln, er muss viel Geld (und viel privates Engagement) investieren, um möglichst viele der Zuwanderer zu qualifizieren. Damit sie dann in Deutschland arbeiten, gut für uns, oder in ihre Heimatländer zurückgehen, gut für diese Länder. Die Welt ist eins.

Der Autor leitet die Wirtschaftsredaktion  der Süddeutschen Zeitung.