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präsident : Der »Lider«

Wladimir Putin hat alle Fäden in der Hand

10.08.2015
2023-08-30T12:28:07.7200Z
5 Min

In Russland ist inzwischen eine Generation junger Frauen und Männer erwachsen geworden, die an der Spitze ihres Staates noch nie einen anderen gekannt haben als Wladimir Wladimirowitsch Putin - abgesehen von dem kurzen Interregnum des Dmitrij Medwedew, der zwischen 2008 und 2012 aus verfassungsrechtlichen Gründen als Putins Platzhalter den Hausherrn im Kreml gab. Putin war und blieb auch in diesem Zeitraum in der öffentlichen Wahrnehmung unangefochten die "Nummer 1".

Gegenwärtig verkörpert Putin für alle Altersgruppen Russlands die unumstrittene Figur des nationalen "Führers" (im russischen Original: "lider"). Die mit mehr als 80 Prozent verblüffend hohen, selbst von seriösen Meinungsforschungsinstituten mehrfach bestätigten Zustimmungsraten für Putin scheinen dies zu belegen. Schon seit geraumer Zeit, deutlich akzentuiert aber seit seinem erneuten, dritten Amtsantritt (2012) als Staatspräsident Russlands, kennzeichnet offene autoritäre Machtausübung Putins Politikstil. Selbst regelmäßige Willkür-Exzesse seitens der Sicherheits- und Justizorgane scheinen von breiten Teilen der russischen Gesellschaft akzeptiert, jedenfalls so gut wie widerstandslos hingenommen zu werden.

Dies mag eine Konsequenz des von Putin und seiner Umgebung propagierten Kurses der "gelenkten Demokratie" sein. Seit 1999/2000, nur kurze Zeit nach Putins Amtsantritt, zunächst als russischer Ministerpräsident unter dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin, ist der Pluralismus im Land, sind Meinungs- und Pressefreiheit konsequent zurückgeschnitten worden. Die neue Mannschaft hat die für das Putinsche Herrschaftssystem verkündete "Vertikale der Macht", von "oben nach unten" durchzuregieren, nachhaltig implantiert. Die Selbstverwaltungsstrukturen wurden neutralisiert oder gänzlich liquidiert, in ihren wichtigsten Feldern unter die Kontrolle der Moskauer Zentrale gebracht.

Entmachtung der Oligarchen Die zielstrebig verfolgte Entmachtung der einflussreichen Oligarchen aus der Jelzin-Ära wie Boris Abramowitsch, Wladimir Gussinskij und nicht zuletzt Michail Chodorkowskij bildete ein wichtiges Element im politischen Masterplan Putins und seiner überwiegend aus dem ehemaligen sowjetischen Geheimdienst KGB stammenden Weggenossen und Kameraden. Dieser Schritt stieß bei sehr vielen Russen auf großen Beifall. Flankierend dazu gilt der fast zeitgleiche rasante Durchgriff des Kreml auf die elektronischen Medien Russlands samt rigider staatlicher Kontrolle sämtlicher relevanter Sendeinhalte als ein weiterer gelungener Schachzug, um die russische Bevölkerung intensiv im Sinn des Kreml zu beeinflussen und zu konditionieren.

Wie wirksam diese moderne Form elektronischer Staatspropaganda funktioniert, lässt sich täglich besichtigen und hören: Nach der Devise "Steter Tropfen höhlt den Stein" hat sie permanent über Konflikte und Kriege desinformiert, in die Russland jemals verwickelt war oder auch noch ist: Dies betrifft sowohl den zweiten Tschetschenienkrieg (1999-2003) aber auch den Einmarsch russischer Truppen auf georgisches Gebiet im August 2008 oder die das Völkerrecht brechende, in den russischen Medien jedoch als patriotische Heldentat gefeierte Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim vor mehr als einem Jahr. Und nicht zuletzt: Die seitens Moskaus weiterhin beharrlich bestrittene Mitwirkung an den Kriegshandlungen so genannter Separatisten im Osten der Ukraine gegen die rechtmäßig gewählte und amtierende Regierung Poroschenko in Kiew.

Politisch gewollt, weil von eigenen Missständen ablenkend, suggeriert der Kreml über das von ihm gesteuerte Fernsehen, Russland sei von einem in Teilen degenerierten, von Schwulen bevölkerten und beeinflussten Europa ("Gayropa"), von böswilligen und neidischen Feinden umgeben, deren Hauptziel - Hand in Hand mit dem "Federführer" USA - darin bestehe, Russland niederzuringen und dann dessen Reichtümer zu rauben. Die auf solche Weise geschürte "Wagenburg-Psychose" wird einem Wechselbad vergleichbar befeuert von einer ständigen in militaristischem Helden-Pathos schwelgenden Berichterstattung über die sich vorgeblich stetig verbessernde Wehrkraft Russlands.

Aber angesichts gesunkener Energie-Exportpreise, einer steigenden Inflation und damit einhergehendem Kaufkraftverlust für die mittlerweile an einen gewissen Lebensstandard gewohnte Bevölkerung in den größeren Städten Russlands wollen skeptische Beobachter nicht mehr ausschließen, dass dem sich jahrelang als "stabil" gefeierten sozio-ökonomischen Fundament Putinscher Macht schon schleichend Gefahr drohen könnte: Gemeint ist jener informelle, stillschweigende Gesellschaftsvertrag, den Putin und sein Umfeld zu Beginn ihres Regimes vor knapp 16 Jahren der Nach-Jelzin-Gesellschaft Russlands einst vorgelegt hatten. Frei übersetzt las sich diese Übereinkunft in etwa so: "Wir Kreml-Bewohner garantieren Euch, dem Volk, anders als zuvor unter Jelzin, (bescheidenen) stabilen Wohlstand und den Pensionären regelmäßig ausbezahlte Renten. Dafür werdet Ihr im Gegenzug die Finger von der Politik lassen. Um Staat und Politik werden wir uns kümmern." Begünstigt von steigenden Gas- und Erdöl-Einnahmen erfüllte Putins Mannschaft vordergründig tatsächlich ihren Teil des Versprechens. Der Löwenanteil der ein reichliches Jahrzehnt lang sprudelnden Energieerlöse landete allerdings in den Taschen einer neuen, sich rasch installierenden Putin-nahen Oligarchen-Gruppe, bestehend aus guten alten Bekannten, Ex-KGB-Kameraden sowie Leningrader beziehungsweise St. Petersburger Jugendfreunden und der ihnen kooptierten eigenen Netzwerke. Die noch im Lande verbliebenen "alten" Oligarchen hatten die so genannte "Chodorkowskij-Lektion" begriffen und sich besser widerspruchslos unterzuordnen. Sie verzichteten fügsam auf eigene politische Ambitionen, konnten dafür ihren alten Geschäften nachgehen, mussten allerdings - so jedenfalls die landläufige Ansicht - ihren Profit mit der neuen Kreml-Mannschaft teilen.

Traumhafte Renditen "Stabilität", so schien es, begann sich fortan in Russland auszubreiten. Auch in vielen Hauptstädten und Firmenzentralen Mittel- und Westeuropas machte dieses Zauberwort begeistert die Runde, verhieß es doch (politisch erzwungene) Ruhe beziehungsweise nicht selten traumhafte Gewinne und Renditen im Russland-Geschäft. Die nie ernsthaft bekämpfte strukturelle Stagnation der russischen Wirtschaft verdrängten die meisten In- und Ausländer ebenso wie die hinter vorgehaltener Hand gleichwohl stets beklagte "systemische Korruption" im Land. Die pries man dann eben zähneknirschend ein und machte gute Miene zum bösen Spiel.

Die Zäsur erfolgte vor einem Jahr. Moskaus aggressive Krim- und Ukraine-Politik seit 2014 gilt vielen neutralen Beobachtern als Symptom und zugleich Folge einer Angst-, vielleicht sogar Panik-Reaktion Putins und seiner Mannschaft. Sie hatte bereits 2004 der kurzfristige Erfolg der Opposition bei der so genannten "Orangenen Revolution" in der Ukraine verstört: Eine mögliche Schablone auch für Russlands Unzufriedene? Immerhin: Die im Wesentlichen zwar nur auf Moskau und auf St. Petersburg beschränkten Straßenproteste im Dezember 2011 nach den ganz offensichtlich manipulierten Duma-Wahlen mochten diese Furcht bestätigen. Sprechchöre forderten damals unverblümt ein "Russland ohne Putin".

Und dann auch noch der "Majdan", der zweite erfolgreiche Aufstand der Ukrainer gegen ihren autoritären Präsidenten Viktor Janukowitsch. Ein Menetekel für Putin und die mit ihm verbundene Elite? Von den anhaltenden internationalen Negativreaktionen äußerlich demonstrativ unbeeindruckt bricht der Kreml nun einen unerklärten Krieg gegen die Ukraine vom Zaun, flankiert von weiteren repressiven Gesetzen gegen die eigenen Bürger. Spannend wird sein mitzuerleben, ob sich Russlands Jugend, die "Generation Putin", den ihnen aufgedrängten pseudo-patriotisch verklärten Mehltau tatsächlich auf Dauer hinzunehmen bereit sein wird. Oder ob deren fähigste und selbständig denkenden Köpfe am Ende wegen der verkrusteten Strukturen in Staat, Wirtschaft, Bildung und Gesellschaft am Ende desillusioniert auswandern werden.

Der Autor ist Europa- und Außenpolitik-Redakteur beim Deutschlandfunk.