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AUSLAND
Christine Longin
So sehen die Nachbarn auf Deutschland

Berichte aus Frankreich, Polen und den Niederlanden

"Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich froh bin, dass es zwei davon gibt." Der Satz, der dem Schriftsteller François Mauriac zugeschrieben wird, trifft die Haltung vieler Franzosen nach 1945. Als im November 1989 die Mauer fiel, hielt sich die Begeisterung im Nachbarland jedoch in Grenzen. In einer am 3. Oktober 1990 veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos gaben nur 37 Prozent an, sich über die Wiedervereinigung zu freuen. 27 Prozent zeigten sich besorgt und 32 Prozent gleichgültig.

Auch Präsident François Mitterrand reagierte abwartend. "Es muss dringend verhindert werden, dass die wilden Pferde der Freiheit durchgehen und die Kutsche im Graben landet", beschrieb die Zeitung "Le Monde" die vorsichtige Haltung des sozialistischen Staatschefs, der im Dezember 1989 noch die sterbende DDR besuchte. Einen Monat später äußerte Mitterrand im Gespräch mit der damaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher die Sorge, dass Deutschland sich in Europa "mehr Boden als Hitler sichern könnte."

In Frankreich herrschte Angst, dass ein wiedervereinigtes Deutschland mit plötzlich 80 Millionen Einwohnern zu stark werden könnte. "Achtung!" titelte das Magazin der Zeitung "Le Figaro" im Herbst 1990 auf Deutsch. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg war damals noch präsenter als heute: 48 Prozent der Franzosen fiel im Oktober 1990 als deutsche Persönlichkeit Adolf Hitler ein, nur 25 Prozent nannten Helmut Kohl.

Jahrzehnte später hat sich der Blick auf die Deutschen gewandelt. Laut einer Ifop-Umfrage aus dem Jahr 2012 sind der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung die Ereignisse, die die Franzosen am stärksten mit Deutschland verbinden - deutlich vor dem Zweiten Weltkrieg. Vier Fünftel gaben an, ein eher positives Bild von Deutschland zu haben. Allerdings herrscht mehr Respekt als Sympathie für den Nachbarn. Das liegt wohl auch an den Qualitäten, die die Franzosen den Deutschen zuordnen: An erster Stelle stehen Ernsthaftigkeit und Strenge.

Die Autorin ist freie Korrespondentin in Paris.

Aus Politik und Zeitgeschichte

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