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SPANIEN : Die gebändigte Revolution

Die politische Landschaft hat sich radikal verändert. Der Ausgang der Wahlen ist offen

07.12.2015
2023-08-30T12:28:13.7200Z
8 Min

Nun gut, Wahlversprechen sollte man nicht auf die Goldwaage legen. Zum Beispiel das des damaligen Sprechers der konservativen Volkspartei (PP), Esteban González Pons, der im September 2011 vollmundig verkündete: "Wir streben an, dass in der kommenden Legislaturperiode 3,5 Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden." So kam es aber nicht. Am Ende der nun zu Ende gegangenen Legislaturperiode ist die Zahl der Arbeitsplätze in Spanien ziemlich genau so hoch wie zu deren Beginn: gut 18 Millionen. So gesehen waren die vergangenen vier Jahre PP-Regierung ein Misserfolg. Man muss es aber nicht so sehen.

Die PP gewann die Wahlen vor vier Jahren mit 44,6 Prozent der Stimmen, 16 Prozentpunkte vor den zweitplatzierten Sozialisten (PSOE), die bis dahin das Land regiert hatten. Ein Wahlsystem, das die großen Parteien bevorzugt, sorgte für eine absolute Sitzmehrheit der PP im Deputiertenkongress, dem spanischen Parlament. Der überragende Wahlsieg hatte vornehmlich einen Grund: Die Spanier trauten den Konservativen zu, ihr Land aus der schweren Wirtschaftskrise herauszuholen, in der Spanien seit dem Platzen der Immobilienblase 2008 steckte. Haben sie das geschafft? Wenn man Wolfgang Schäuble (CDU) fragt, dann sind die vergangenen vier Jahre unter PP-Regierung eine Erfolgsgeschichte. Spanien sei "unser bestes Argument, dass wir doch vieles ziemlich richtig gemacht haben", sagte der deutsche Finanzminister im September während eines deutsch-spanischen Wirtschaftsforums in Berlin. Seine Argumente: Die langandauernde Rezession ist überwunden, die Wirtschaft wächst wieder - im vergangenen Jahr um 1,4 Prozent, dieses Jahr voraussichtlich um 3,3 Prozent. Die Arbeitslosenrate ist von 26,9 Prozent Anfang 2013 auf aktuell 21,2 Prozent gesunken; das jährliche Defizit der öffentlichen Haushalte ging von 10,4 Prozent der Wirtschaftsleistung 2012 auf 5,9 Prozent im vergangenen Jahr zurück. Wenn am 20. Dezember ein neues Parlament gewählt wird, "dann steht auf dem Spiel, ob es mit der wirtschaftlichen Erholung weitergeht oder ob wir den Rückwärtsgang einlegen", glaubt Ministerpräsident Mariano Rajoy. Er selbst hält für sich den Garanten des weiteren Aufschwungs.

Die Spanier teilen den Optimismus ihres Regierungschefs nicht. In der jüngsten Umfrage des staatlichen Sozialforschungsinstituts CIS vom Oktober zeigte sich nur ein gutes Fünftel der Befragten davon überzeugt, dass sich die wirtschaftliche Lage Spaniens in den vergangenen zwölf Monaten verbessert habe; fast jeder Vierte meinte, die Situation sei heute schlechter als vor einem Jahr. Das ist bemerkenswert, bewegen sich doch fast alle ökonomischen Daten in eine positive Richtung. Aber der Aufschwung kommt bei vielen Menschen nicht an.

Spanien lebt noch immer mit dem Drama der Massenarbeitslosigkeit. Nach Rajoys Regierungsübernahme stieg die Zahl der Jobsuchenden zunächst weiter steil an, seit zweieinhalb Jahren sinkt sie wieder - in der Bilanz steht das Land etwa genauso schlecht da, wie vor vier Jahren. 4,85 Millionen Männer und Frauen suchen eine Beschäftigung. 3,7 Millionen von ihnen erhalten keine Arbeitslosenunterstützung, weil ihr Anspruch darauf nach maximal zwei Jahren Arbeitslosigkeit abgelaufen ist oder weil sie noch nie beschäftigt waren. Hinzu kommt, dass die seit dem Höhepunkt der Krise Anfang 2013 neu geschaffenen Jobs oft von schlechter Qualität sind. Mehr als 26 Prozent aller Beschäftigten in Spanien haben einen zeitlich befristeten Vertrag. Die Gehälter liegen ein gutes Drittel unter denen von Festangestellten. Männer, die in den Krisenjahren eine neue Stelle antreten mussten, verdienen dort nach einer Studie des liberalen Thinktanks Fedea im Durchschnitt 17 Prozent weniger als in ihrem vorigen Job, Frauen 13 Prozent weniger. Berufseinsteiger bekommen heute Gehälter, die 30 Prozent unter dem liegen, was Berufseinsteiger zu Beginn der Krise 2008 erhielten. Die Lohnkürzungen treffen die Schlechtverdiener härter als die Gutverdiener. Nach einer OECD-Studie vom Mai dieses Jahres hat in keinem anderen OECD-Land die soziale Ungleichheit während der Krise so stark zugenommen wie in Spanien.

Anders als Wolfgang Schäuble sind die spanischen Krisenverlierer daher eher skeptisch, was die Bilanz der vergangenen vier Jahre angeht. Aus ihrer Sicht hat die PP ihre Chance gehabt und sie nicht genutzt. Die ersten, die vom Unmut profitierten, waren die Männer und Frauen um den Madrider Politologen Pablo Iglesias, die Anfang letzten Jahres Podemos ("Wir können") gründeten. Podemos unterschied sich von traditionellen linken Parteien wie der Vereinten Linken (IU) durch ihren populistischen Diskurs, der die Krise aus dem Antagonismus zwischen politisch-ökonomischer "Kaste" und den "Leuten" erklärte. Mit diesem Diskurs kam Podemos bei den Europawahlen nur vier Monate nach ihrer Gründung auf acht Prozent der Stimmen und stieg danach in allen Umfragen immer weiter auf - so weit, dass Anfang dieses Jahres ein Wahlsieg auf nationaler Ebene möglich schien.

Im Laufe des Jahres ist Podemos allerdings ein starker Gegner aus der politischen Mitte erwachsen: Ciudadanos ("Bürger"), vor neun Jahren als liberale, antinationalistische Partei in Katalonien gegründet, hat sich vorgenommen, in ganz Spanien mitzumischen. Ihren Erfolg in den Umfragen und bei etlichen Regionalwahlen in den vergangenen Monaten dankt sie vor allem ihrem unverschämt selbstbewussten Vorsitzenden Albert Rivera, der mit 36 Jahren noch ein Jahr jünger ist als Podemos-Chef Iglesias. Rivera, ein begnadeter Redner, wettert nicht gegen die "Kaste", sondern gegen das "Zweiparteiensystem" aus PP und PSOE. Damit hat er Podemos in den Umfragen für den 20. Dezember auf den vierten Platz verdrängt, während seine Ciudadanos mit PP und PSOE um die Spitzenposition kämpfen. In den meisten Umfragen liegt die PP aber immer noch - mit weniger als 30 Prozent der Stimmen - leicht vorne. Tatsache ist: Spaniens politische Landschaft ist sehr viel bunter geworden. Trotzdem könnte Mariano Rajoy mit etwas Glück weitere vier Jahre im Amt bleiben.

Der Autor ist freier Korrespondent in Madrid.

Nun gut, Wahlversprechen sollte man nicht auf die Goldwaage legen. Zum Beispiel das des damaligen Sprechers der konservativen Volkspartei (PP), Esteban González Pons, der im September 2011 vollmundig verkündete: "Wir streben an, dass in der kommenden Legislaturperiode 3,5 Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden." So kam es aber nicht. Am Ende der nun zu Ende gegangenen Legislaturperiode ist die Zahl der Arbeitsplätze in Spanien ziemlich genau so hoch wie zu deren Beginn: gut 18 Millionen. So gesehen waren die vergangenen vier Jahre PP-Regierung ein Misserfolg. Man muss es aber nicht so sehen.

Die PP gewann die Wahlen vor vier Jahren mit 44,6 Prozent der Stimmen, 16 Prozentpunkte vor den zweitplatzierten Sozialisten (PSOE), die bis dahin das Land regiert hatten. Ein Wahlsystem, das die großen Parteien bevorzugt, sorgte für eine absolute Sitzmehrheit der PP im Deputiertenkongress, dem spanischen Parlament. Der überragende Wahlsieg hatte vornehmlich einen Grund: Die Spanier trauten den Konservativen zu, ihr Land aus der schweren Wirtschaftskrise herauszuholen, in der Spanien seit dem Platzen der Immobilienblase 2008 steckte. Haben sie das geschafft? Wenn man Wolfgang Schäuble (CDU) fragt, dann sind die vergangenen vier Jahre unter PP-Regierung eine Erfolgsgeschichte. Spanien sei "unser bestes Argument, dass wir doch vieles ziemlich richtig gemacht haben", sagte der deutsche Finanzminister im September während eines deutsch-spanischen Wirtschaftsforums in Berlin. Seine Argumente: Die langandauernde Rezession ist überwunden, die Wirtschaft wächst wieder - im vergangenen Jahr um 1,4 Prozent, dieses Jahr voraussichtlich um 3,3 Prozent. Die Arbeitslosenrate ist von 26,9 Prozent Anfang 2013 auf aktuell 21,2 Prozent gesunken; das jährliche Defizit der öffentlichen Haushalte ging von 10,4 Prozent der Wirtschaftsleistung 2012 auf 5,9 Prozent im vergangenen Jahr zurück. Wenn am 20. Dezember ein neues Parlament gewählt wird, "dann steht auf dem Spiel, ob es mit der wirtschaftlichen Erholung weitergeht oder ob wir den Rückwärtsgang einlegen", glaubt Ministerpräsident Mariano Rajoy. Er selbst hält für sich den Garanten des weiteren Aufschwungs.

Die Spanier teilen den Optimismus ihres Regierungschefs nicht. In der jüngsten Umfrage des staatlichen Sozialforschungsinstituts CIS vom Oktober zeigte sich nur ein gutes Fünftel der Befragten davon überzeugt, dass sich die wirtschaftliche Lage Spaniens in den vergangenen zwölf Monaten verbessert habe; fast jeder Vierte meinte, die Situation sei heute schlechter als vor einem Jahr. Das ist bemerkenswert, bewegen sich doch fast alle ökonomischen Daten in eine positive Richtung. Aber der Aufschwung kommt bei vielen Menschen nicht an.

Spanien lebt noch immer mit dem Drama der Massenarbeitslosigkeit. Nach Rajoys Regierungsübernahme stieg die Zahl der Jobsuchenden zunächst weiter steil an, seit zweieinhalb Jahren sinkt sie wieder - in der Bilanz steht das Land etwa genauso schlecht da, wie vor vier Jahren. 4,85 Millionen Männer und Frauen suchen eine Beschäftigung. 3,7 Millionen von ihnen erhalten keine Arbeitslosenunterstützung, weil ihr Anspruch darauf nach maximal zwei Jahren Arbeitslosigkeit abgelaufen ist oder weil sie noch nie beschäftigt waren. Hinzu kommt, dass die seit dem Höhepunkt der Krise Anfang 2013 neu geschaffenen Jobs oft von schlechter Qualität sind. Mehr als 26 Prozent aller Beschäftigten in Spanien haben einen zeitlich befristeten Vertrag. Die Gehälter liegen ein gutes Drittel unter denen von Festangestellten. Männer, die in den Krisenjahren eine neue Stelle antreten mussten, verdienen dort nach einer Studie des liberalen Thinktanks Fedea im Durchschnitt 17 Prozent weniger als in ihrem vorigen Job, Frauen 13 Prozent weniger. Berufseinsteiger bekommen heute Gehälter, die 30 Prozent unter dem liegen, was Berufseinsteiger zu Beginn der Krise 2008 erhielten. Die Lohnkürzungen treffen die Schlechtverdiener härter als die Gutverdiener. Nach einer OECD-Studie vom Mai dieses Jahres hat in keinem anderen OECD-Land die soziale Ungleichheit während der Krise so stark zugenommen wie in Spanien.

Anders als Wolfgang Schäuble sind die spanischen Krisenverlierer daher eher skeptisch, was die Bilanz der vergangenen vier Jahre angeht. Aus ihrer Sicht hat die PP ihre Chance gehabt und sie nicht genutzt. Die ersten, die vom Unmut profitierten, waren die Männer und Frauen um den Madrider Politologen Pablo Iglesias, die Anfang letzten Jahres Podemos ("Wir können") gründeten. Podemos unterschied sich von traditionellen linken Parteien wie der Vereinten Linken (IU) durch ihren populistischen Diskurs, der die Krise aus dem Antagonismus zwischen politisch-ökonomischer "Kaste" und den "Leuten" erklärte. Mit diesem Diskurs kam Podemos bei den Europawahlen nur vier Monate nach ihrer Gründung auf acht Prozent der Stimmen und stieg danach in allen Umfragen immer weiter auf - so weit, dass Anfang dieses Jahres ein Wahlsieg auf nationaler Ebene möglich schien.

Im Laufe des Jahres ist Podemos allerdings ein starker Gegner aus der politischen Mitte erwachsen: Ciudadanos ("Bürger"), vor neun Jahren als liberale, antinationalistische Partei in Katalonien gegründet, hat sich vorgenommen, in ganz Spanien mitzumischen. Ihren Erfolg in den Umfragen und bei etlichen Regionalwahlen in den vergangenen Monaten dankt sie vor allem ihrem unverschämt selbstbewussten Vorsitzenden Albert Rivera, der mit 36 Jahren noch ein Jahr jünger ist als Podemos-Chef Iglesias. Rivera, ein begnadeter Redner, wettert nicht gegen die "Kaste", sondern gegen das "Zweiparteiensystem" aus PP und PSOE. Damit hat er Podemos in den Umfragen für den 20. Dezember auf den vierten Platz verdrängt, während seine Ciudadanos mit PP und PSOE um die Spitzenposition kämpfen. In den meisten Umfragen liegt die PP aber immer noch - mit weniger als 30 Prozent der Stimmen - leicht vorne. Tatsache ist: Spaniens politische Landschaft ist sehr viel bunter geworden. Trotzdem könnte Mariano Rajoy mit etwas Glück weitere vier Jahre im Amt bleiben.

Der Autor ist freier Korrespondent in Madrid.