Piwik Webtracking Image

GESCHICHTE : Inseln des Eigensinns

Die Wurzeln der kommunalen Selbstverwaltung reichen bis ins Mittelalter

07.03.2016
2023-08-30T12:29:57.7200Z
6 Min

Es ist der Spatenstich für eines der größten Projekte, das eine Gemeinde bis dahin selbst in die Hand genommen hat: Vor mehr als 100 Jahren gibt Rudolph Wilde, der Oberbürgermeister der Stadt Schöneberg im Süden Berlins, den Startschuss für den Bau der ersten kommunalen U-Bahn - es soll die zweite U-Bahn in Deutschland überhaupt werden: "Dieses Werk, für das wir Millionen und Abermillionen aufwenden, hat keinen anderen Zweck, als uns und unseren Nachkommen täglich einige Minuten oder eine Viertelstunde Zeit zu ersparen", sagte Wilde und fügte ganz im Geist des 20. Jahrhunderts hinzu: "Zeit ist Geld."

Man schreibt das Jahr 1908: Schöneberg ist eine aufstrebende, selbstständige und selbstbewusste Stadt vor den Toren Berlins. Dort, wo noch vor wenigen Jahren Bauern die Felder bestellten, wachsen prachtvolle Stadtviertel der späten Gründerzeit für das gehobene Bürgertum in den Himmel. Paris hat die Metro, London die Tube und Berlin die U-Bahn. Warum also nicht auch eine eigene "Unterpflaster-Bahn" für Schöneberg? Was der Bürgermeister und Publikum nicht ahnen: Mit dem "Groß-Berlin-Gesetz" von 1920 wird Schöneberg der Hauptstadt einverleibt. Die prestigeträchtige Untergrundbahn wird den Berliner Verkehrsbetreiben zugeschlagen, auf deren Netzspinne sie bis heute als gelber Arm unter dem Namen "U4" bekannt ist.

Industrialisierung Die Gemeinde Schöneberg steht mit ihren Plänen einer eigenen Metro Anfang des 20. Jahrhunderts für eine Entwicklung, bei der Kommunen mit Industrialisierung und wachsender Mobilität immer mehr und stetig größer werdende Verwaltungsaufgaben übernehmen. Die Städte brauchen Kanalisation und Beleuchtung, Wohnquartiere müssen geplant und gebaut, Gewerbegebiete ausgewiesen und erschlossen werden. Die Versorgung mit Gas und später Elektrizität muss sichergestellt sein, ebenso die Müllentsorgung, die Hygienekontrolle bei Lebensmitteln und der Brandschutz in Siedlungen, in denen immer mehr Menschen auf immer engerem Raum leben. Dies führt im 19. Jahrhundert innerhalb der kommunalen Verwaltungen zu einer Professionalisierung: Gefragt waren zunehmend nicht mehr bürgerliche Honoratioren und Feierabend-Bürgermeister, sondern Verwaltungsfachleute und Menschen, die auch auf lokaler Ebene der "Politik als Beruf" (Max Weber) nachgehen.

Kommunen sind der Ort, in denen die praktischen Fragen des alltäglichen Zusammenlebens geregelt werden - daran hat sich seit Jahrhunderten nichts geändert. In Deutschland beginnt das Eigenleben von Gemeinden im Sinne der kommunalen Selbstverwaltung im Mittelalter: Dort wo mit den großen Veränderungen in der Agrarverfassung Bauern gegen Zins ein Lehen beackern, dort wo Städte in den überregionalen Handel eintreten und eine frühe städtische Industrie entsteht, bildet sich ein Gemeindeleben heraus, das nicht bis in jede Verästelung hinein vom jeweiligen Lehensherr, sei er nun Bischof oder Fürst, geregelt werden konnte und musste. In den Gemeinden fallen gemeinsame Aufgaben an: Brunnen müssen gebohrt, Wege und Brücken gebaut und instand gehalten werden, es braucht Schutzmaßnahmen gegen Feuer. Die Gemeinde entscheidet, wie der Flecken gemeinsamer Weide oder Wald zum Wohle aller genutzt wird, sie bestimmt womöglich einen Sprecher, der bei Verhandlungen nach außen und mit dem Grundherren auftritt - und sie bestimmt aus ihrer Mitte heraus einen Gemeindevertretung, die die Regeln für das Zusammenleben aushandelt und bei Konflikten vermittelt. Mehr und mehr entwickeln sich Gemeinden außerdem zur sozialen Einrichtung, die etwa Alte, Kranke und Kinder versorgt, wenn die Angehörige fehlen.

Lange also bevor der absolutistische Staat das Land verwaltungstechnisch mehr und mehr durchdringt, entwickeln Gemeinden den Anspruch, die Dinge vor Ort selbst zu regeln. Und selbst dort, wo der Lehnsherr ihnen ein solches Privileg nicht einräumt und einen Statthalter - etwa einen Vogt - einsetzt, ist dieser doch auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Bewohnern angewiesen. Das Streben nach Unabhängigkeit geht so weit, dass sich "Freie Reichsstädte" wie Nürnberg, Augsburg oder Frankfurt etablieren. Es sind stolze, selbstbewusste Kommunen, die im Reichstag auf Augenhöhe mit den anderen Reichsständen auftreten und keinen Herren mit Ausnahme des Kaisers über sich dulden. Solcher Bürgerstolz klingt im Titel der "Freien und Hansestädte" Hamburg und Bremen nach, deren offizielle Vertreter Auszeichnungen und Orden "fremder Herren" zuweilen auch heute noch ablehnen und sich dabei auf teils jahrhundertalte Senatsbeschlüsse berufen können.

Preußische Städteordnung Ein wichtiger Meilenstein der kommunalen Selbstverwaltung ist die Preußische Städteordnung von 1808: Nach der Niederlage gegen das das reformfreudige, dynamische, mit der Idee der Nation begeisternde Frankreich Napoleons versuchen Reformer am preußischen Königshof, die Bürger enger an den Staat zu binden, indem ihnen vor Ort, in ihrer Stadt, mehr Mitsprache zugestanden werden soll. Die Städteordnung des Karl Freiherr vom und zum Stein war ihrer Zeit weit voraus: Sie entwirft eine Gewaltenteilung, bei der ein gewählter Gemeinderat eine Verwaltungsspitze als Exekutive bestimmt. Mehr noch: Das Bürgerrecht soll unabhängig von Stand, Geburt und Religion gelten. Das Recht zu wählen oder in den Gemeinderat gewählt zu werden, bleibt allerdings in der Praxis meist noch lange an Besitz gebunden: Die (männlichen und vermögenden) Honoratioren bleiben im Rat gern unter sich. In Deutschland entwickeln sich im 19. Jahrhundert verschiedene Typen der Gemeindeordnungen: Neben der preußischen "Magistratsverfassung" die "Norddeutsche Ratsverfassung" mit der starken Stellung des Gemeinderats und die "Süddeutsche Bürgermeisterverfassung" - die ein machtvolles, oft hauptamtliches Stadtoberhaupt vorsieht, das nicht vom Rat, sondern von den Bürgern direkt gewählt wird.

Verfassungsrang Die Paulskirchenverfassung von 1848 gesteht den Gemeinden das Grundrecht auf die "Wahl ihrer Vorsteher und Vertreter" und die "selbständige Verwaltung ihrer Gemeindeangelegenheiten" zu. Rund 70 Jahre später hält die Weimarer Verfassung kurz und knapp fest, dass Gemeinden und Gemeindeverbände "das Recht der Selbstverwaltung innerhalb der Schranken der Gesetze" haben. Und: Die Grundsätze für die Wahlen zur Volksvertretung gelten seit 1919 auch für die Gemeindewahlen - die Weimarer Verfassung räumt damit auch die letzten vordemokratischen Relikte aus dem Weg, die das kommunale Wahlrecht an Besitz geknüpft haben.

Die "Deutsche Gemeindeordnung" der Nationalsozialisten aus dem Jahre 1935 setzt nicht nur diesen Errungenschaften ein Ende, sondern kappt auch die über die Jahrhunderte gewachsene kommunaler Selbstverwaltung: Selbstbewusste Gemeinden sind im nationalsozialistischen Weltanschauungsstaat suspekt, ihre Bürgermeister werden nicht mehr gewählt, sondern durch "Gemeindeleiter" ersetzt, die von der NSDAP bestimmt werden.

Am Ende des "Dritten Reiches" war es dann die Gemeindeebene, die auf Betreiben der Alliierten in den oftmals zerbombten und verwüsteten Städten und Dörfern als erstes an Stelle des nun handlungsunfähigen Staates tritt: Auf kommunaler Ebene wird die Versorgung mit Lebensmitteln organisiert, die Unterbringung von Ausgebombten und Flüchtlingen, die Räumung von Schutt und das Flicken von Straßen.

Die Alliierten haben praktische Gründe, wenn sie als erstes zunächst handlungsfähige Gemeindeverwaltungen aufstellen. Aber insbesondere Briten und Amerikaner setzen damit auch auf eine Dezentralisierung Deutschlands und eine Demokratisierung der Gesellschaft von unten, auf die Gemeinde als Schule der Demokratie.

Die Landesverfassungen ab 1946 und schließlich das Grundgesetz 1949 schreiben die kommunale Selbstverwaltung fest: Den Gemeinden, so heißt es im Grundgesetz "muss das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln".

Ein U-Bahn-Bau in Eigenregie käme für Schöneberg, heute Teil des Berliner Bezirks Tempelhof-Schöneberg, trotzdem nicht in Frage: Berlin ist als Stadtstaat eine Einheitsgemeinde, die Bezirke haben nicht den Status einer Kommune und in Sachen Verkehrsbetriebe haben das Abgeordnetenhaus und der Senat das Sagen. Die Bezirksverordnetenversammlung macht sich für eine Verlängerung der Schöneberger U-Bahn nach Norden stark, zumal die Tunnel dafür schon in der Erde liegen würden, es also "nur" noch des Baus eines Bahnhofs bedürfte. Der Senat gelobt immerhin laut Koalitionsvertrag das Projekt planerisch zu prüfen. Laut einer Wasserstandsmeldung aus dem Jahr 2012 aber ist "eine weitergehende Prüfung der Verlängerung der U-Bahnlinie U4 aus Sicht des Senates derzeit nicht vordringlich".