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LEBENSORTE : Wo die Helden handeln

In den Städten und Gemeinden wird nicht lange lamentiert, sondern ermöglicht

07.03.2016
2023-08-30T12:29:57.7200Z
5 Min

Vorbei sind die Zeiten, in denen man bei "Kommune" zuallererst an Straßen, den Öffentlichen Personennahverkehr, Baugenehmigungen oder Abwasserrechnungen dachte. In der öffentlichen Diskussion stellt die Flüchtlingskrise diese Aspekte in den Schatten. Nie wurde so deutlich wie derzeit, dass Kommune weit mehr ist als Selbstverwaltung und Daseinsvorsorge. Nicht zufällig ist der Begriff Kommune abgeleitet aus dem lateinischen Begriff communis = gemeinschaftlich. Ob und wie das Zusammenleben in unserem Gemeinwesen gelingt, entscheidet sich in erster Linie in den Kommunen, dort, wo die Menschen Tür an Tür zusammenleben. Dabei muss "Gemeinschaft" gelingen über soziale, ethnische und religiöse Hintergründe hinweg. Lebenswerte Kommunen sind die Wurzel einer gedeihenden nationalen und internationalen Gemeinschaft. Was in der Stadt nicht gelingt, wird auch im Staat nicht funktionieren. Jeder fünfte Einwohner in Deutschland hat einen Migrationshintergrund. Kulturelle Vielfalt hat die deutsche Gesellschaft bereichert und wirtschaftlich vorangebracht. Auch kulturelle Vielfalt wird in erster Linie in Kommunen konkret erlebbar: in der Nachbarschaft, in Schulen, Kitas und Sportvereinen.

Neue Dimension Eine Million Flüchtlinge kamen 2015 in unsere Kommunen. Jeder 80. Einwohner ist somit ein Flüchtling. Ist die deutsche Gesellschaft damit nun überfordert? Im selben Maße wie internationale und nationale Institutionen außerstande sind, Fluchtursachen zu bekämpfen und Fluchtfolgen zu managen, steigt die kommunale Verantwortung für die Sicherung von Stabilität und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft, einer Einwanderungsgesellschaft neuer Dimension. Aufgrund der kurzfristigen Entwicklung sind die Kommunen dabei an Kapazitätsgrenzen gestoßen: Die Begleitung der Geflohenen bei schlecht funktionierenden Registrierungs- und Asylantragsverfahren, der Bau neuer Unterkünfte für Menschen mit ungeklärter Bleibeperspektive, die Eröffnung zusätzlicher Kitagruppen, die Gewährleistung von Gesundheitsversorgung oder Unterhalt, all diese Aufgaben kamen zu plötzlich, um sie problemlos abzuwickeln. Dennoch: Die Kommunen sind in dieser Situation schier über sich hinaus gewachsen. Sie haben nicht lamentiert, sondern unbürokratisch geholfen, gemanagt, ermöglicht. Ohne das außerordentliche Engagement ihrer Bürger könnten die Kommunen ihre aktuellen Herausforderungen nicht annähernd so gut bewältigen. Rund 8,7 Millionen Menschen in Deutschland engagieren sich derzeit für Flüchtlinge. Mehr als in jedem anderen Bereich. 80 Prozent des zivilgesellschaftlichen Engagements findet in der Kommune statt. Eine lebenswerte Kommune ist auf dieses Engagement angewiesen. Denn zivilgesellschaftliche Akteure verfügen über besondere Stärken, die unsere Städte und Gemeinden brauchen: hohes Engagement, Innovationskraft, Kreativität, Selbsthilfe, Anwaltschaft und nicht zuletzt zeitliche und finanzielle Ressourcen.

Ort für Kinder Eingebettet sind die Kommunen in die föderale Struktur Deutschlands. Artikel 28 Grundgesetz garantiert den Kommunen die "subsidiäre Allzuständigkeit". Zwar sind sie die unterste föderale Ebene und müssen sich damit im Rahmen bundes- und landesgesetzlicher Regeln bewegen. Auf der anderen Seite erlaubt dieser Grundsatz den Kommunen jedoch, überall dort eigenständig zu handeln, wo EU, Bund und Länder keine Vorgaben machen. Nicht zuletzt der Tatsache, dass Kommunen und ihre Bürger überall dort pragmatische Lösungen gesucht haben, wo andere sich für unzuständig erklärten, hat Deutschland es zu verdanken, dass der Zuzug so vieler Flüchtlinge in so kurzer Zeit gelingen konnte. Und dieses Prinzip, nicht explizit zuständig, aber dennoch verantwortlich zu sein, prägt das Selbstverständnis und das Handeln kommunaler Akteure auch jenseits der Flüchtlingspolitik. So spielen zum Beispiel auch in der Familienpolitik die Kommunen auf freiwilliger Basis eine wichtige Rolle. Obwohl die Familie der wichtigste Ort für ein gelingendes Aufwachsen ist, adressieren Bund und Länder Kinder nicht primär im familiären Kontext, sondern als familienunabhängiges Individuum entlang institutioneller Zuständigkeiten: als Kitakind, als Schulkind, als auszubildendes Kind. In jeder Lebensphase wechseln die verantwortlichen Ministerien, die Rechtskreise, die Ansprechpartner des Kindes. Und bei jedem institutionellen Übergang scheitern Kinder an diesen volatilen Umfeldbedingungen. Das Ergebnis staatlicher Familienförderung: Doppelt so viele Kinder sind von Armut bedroht wie Erwachsene. Ein Armutszeugnis nicht nur für die betroffenen Kinder, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt. Kommunen können zwar nichts an diesen Rahmenbedingungen ändern, aber sie fördern Kinder und ihre Familien gezielt nicht nur im Rahmen der Erziehungshilfe, sondern auch durch vielfältige freiwillige familienpolitische Leistungen wie Präventionsnetzwerke, Frauenhäuser oder Schulsozialarbeit.

In seinem überaus lesenswerten Buch "If majors ruled the world" (Würden Bürgermeister die Welt regieren) stellt Benjamin Barber - Berater von Bill Clinton und Roman Herzog - die These auf, dass Städte, nicht Staaten die problemlösenden Instanzen der Zukunft sind. Denn während Staatchefs verhandeln, müssen Bürgermeister handeln. Und sie tun dies sowohl vor Ort, als auch in internationalen Netzwerken. Da Bürgermeister handeln, fordert Barber, ihnen mehr nationalen und internationalen Gestaltungsspielraum zu geben. Dass Bürgermeister "die Welt regieren" ist sicher Utopie, aber es ist zumindest ein spannendes Gedankenexperiment, darüber nachzudenken, wie die europäische und deutsche Politik aussähe, wenn an entscheidenden Stellen Bürgermeister säßen. Eines scheint dabei sicher: Die Rahmenbedingungen, unter denen Kommunen agieren müssen, wären wohl weit einfacher.

Investitionsschwäche Kommunen leisten mit ihren Investitionen einen entscheidenden Beitrag zur Bereitstellung öffentlicher Infrastruktur. Seit der Jahrtausendwende reichen die kommunalen Investitionen aber nicht einmal mehr aus, um die bestehende Infrastruktur zu erhalten. Begründet ist diese Investitionsschwäche primär durch die prekäre finanzielle Situation der Kommunen. Insbesondere die Entlastung von Sozialkosten würde die Lage der investitionsschwachen Kommunen entscheidend verbessern. Die kommunale Familie ist dabei - wie die Gesellschaft insgesamt - gekennzeichnet durch eine wachsende Ungleichheit. Auf der einen Seite stehen Kommunen mit ausgeglichenen Haushalten - auf der anderen Seite solche, die aus den laufenden Einnahmen nicht einmal mehr ihre Pflichtaufgaben finanzieren können. Es gibt Kommunen, deren Einwohnerzahl wächst - auf der anderen Seite stehen schrumpfende Städte und Dörfer. Manche Orte sind wirtschaftlich stark mit geringer Arbeitslosigkeit, andere schwach mit meist auch sozialen Problemlagen. Wirtschaftliche Probleme, soziale Folgekosten und Haushaltsengpässe führen dabei in eine Abwärtsspirale, aus der die betroffenen Kommunen aus eigener Kraft nicht mehr herausfinden. Die grundgesetzlich garantierte Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse steht faktisch längst zur Disposition.

Eine weitere Vertiefung der Unterschiede droht durch den schleppenden Ausbau von Breitbandinfrastruktur außerhalb der Ballungszentren. Nicht nur Deutschland insgesamt ist auf dem Weg ins digitale Zeitalter weit abgeschlagen. Bei der Versorgung mit Glasfaser liegt Deutschland im OECD- Vergleich auf Platz 27 von 34 Nationen. Hinzu kommt ein starkes Stadt-Land-Gefälle, das dazu führt, dass Regionen, die aufgrund der demografischen Entwicklung eh benachteiligt sind, durch die fehlende Anbindung an die digitale Infrastruktur weiter an Wettbewerbsfähigkeit verlieren.

Kommunen nehmen im Staatsaufbau eine Doppelrolle ein: Sie sind untere staatliche Behörde, aber auch eigene Verwaltungseinheit. Sie lösen Probleme, mit denen der Staat überfordert ist. Augenhöhe ist das Mindeste, was Kommunen von Bund und Ländern erwarten dürfen.

Die Autorin ist bei der Bertelsmann Stiftung Direktorin für das Programm LebensWerte Kommune.