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KURDEN : Pläne für ein neues Syrien

Als Teil einer Föderation im Norden des Landes verändert sich ihre Agenda

04.04.2016
2023-08-30T12:29:58.7200Z
3 Min

Alles begann in Kobani, als Tausende Kämpfer der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) die syrische Grenzstadt zur Türkei angriffen. Mit aller Gewalt wollten sie den strategisch wichtigen Ort einnehmen. Damals, im Herbst 2014, schien das Schicksal von Kobani und von ganz Rojava besiegelt zu sein; Rojava heißt der hauptsächlich von Kurden bewohnte Landstrich im Norden Syriens. Aber im letzten Moment halfen die USA und die Luftangriffe der von ihr angeführten internationalen Anti-IS-Koalition. Es folgte ein nicht für möglich gehaltener Siegeszug der Kurdenmiliz YPG. Nach der Vertreibung des IS aus Kobani eroberten sie mit US-Hilfe bis Juni 2015 über 10.000 Quadratkilometer von den Extremisten zurück und kamen bis auf 30 Kilometer an ihre Hochburg in Rakka heran. Im Oktober gründete die YPG zusammen mit Christen, Turkmanen und Arabern die "Syrischen Demokratischen Kräfte" (SDF). Die religiös und ethnisch übergreifende Militärallianz trieb den IS weiter in die Enge.

"Die SDF ist die zukünftige Basis für die nationale Armee Syriens", meint Talal Selo, der turkmanische Sprecher des Bündnisses. Große Worte, die man aus dem fünfjährigen Bürgerkrieg von allen Konfliktparteien gewohnt ist. Doch in Rojava versucht man, sie in Taten umzusetzen. So treffen innerhalb der SDF die unterschiedlichen Milizen alle Entscheidungen gemeinsam. Und das, obwohl die kurdische YPG den größten Teil der Truppen stellt.

Neuorientierung Es ist ein Prinzip, das die Beteiligten aus der Zivilverwaltung kennen. Seit 2013 haben die drei Kantone Rojavas jeweils eigene Regierungen. Seit 2014 gibt es eine vorläufige Verfassung zu einem politischen System, das demokratischer Konföderalismus genannt wird. Das basisdemokratische Modell geht zurück auf den amerikanischen Anarchisten Murry Bookchin. Seine Bücher bekam Abdullah Öcalan in die Hände. Nach der Lektüre verordnete der Führer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei (PKK) den Abschied von der bisherigen marxistischen Ausrichtung der PKK. Öcalan kann das, wobwohl er seit 1999 in der Türkei inhaftiert ist: Er ist Leitfigur und Übervater der syrischen und türkischen Kurdenorganisationen. In jedem Büro und selbst in Privatwohnungen hängen Poster von ihm.

Im März folgte ein weiterer Meilenstein: Auf einem Kongress im ölreichen Städtchen Rumelan beschlossen mehr als 150 Delegierte aller Bevölkerungsgruppen Rojavas die Gründung einer Föderation. Der Landstrich, der sich rund 400 Kilometer entlang der türkischen Grenze vom Irak bis zum Euphrat erstreckt und die Region Afrin miteinschließt, soll eine gemeinsame Regierung erhalten. Wie schon die SDF und das autonome Kantonssystem, soll auch die neue Föderation eine Basis für das Syrien von morgen sein. "Das föderale System ist nicht nur für Nordsyrien, sondern ein Modell für das ganze Land", erklärte Scheich Hamd Shehade, der Führer eines arabischen Stammes und Teilnehmer des Kongresses in Rumelan. "Damit wollen wir Syrien nicht aufspalten", betonte er. "Diese Initiative soll überall Schule machen."

Sorge vor Spaltung Doch es hagelt Kritik. "Zum Scheitern verurteilt und gegen die territoriale Integrität Syriens" gerichtet sei das Vorhaben, urteilte Bashar al-Jaafari, der syrische UN-Botschafter und Verhandlungsführer des Regimes bei den Friedensgesprächen in Genf. Und auch Raid Hijab, der Sprecher des Hohen Verhandlungsrats (HNC), der für die Opposition an den Friedensverhandlungen in Genf teilnimmt, warnte: "Das führt zur Spaltung des Landes und ist nicht zu tolerieren."

Der weitaus größte Kritiker und Gegenspieler der neuen Föderation jedoch ist die Türkei. Für den Nachbarstaat ist die YPG ein Ableger der PKK Öcalans und damit eine "Bande von Terroristen". Sie befürchtet zudem, dass die Kurden in in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft ein zusammenhängendes Autonomiegebiet schaffen wollen. Seit Februar beschießt sie YPG-Stellungen in Nordsyrien.

Doch die Türkei übersieht dabei, dass die Kurden sich durch den politischen Prozess notgedrungen verändern. Als Teil einer neuen Ordnung in der Region verliert ihr alter Kampf um Selbstbestimmung zunehmend an Bedeutung. "Die Kurden haben das noch nicht so richtig begriffen", meint ein Vertreter der christlichen Gemeinde Rojavas. "Sie kämpfen jetzt plötzlich für die Rechte aller, nicht mehr nur für sich alleine. Da wackelt die alte Identität des Widerstands." Alfred Hackensberger