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Journalismus II : Wenn die Zeitung sich selbst abschafft

Stefan Schulz analysiert die Medienwelt gekonnt und einleuchtend

18.04.2016
2023-08-30T12:29:59.7200Z
2 Min

Der klassische Journalismus, der die Zeitläufte nach Relevanz sortiert und erklärt, scheint aus der Mode zu kommen. Seine Rolle übernehmen zusehends digitale Netzwerke: Nachrichtenangebote erreichen uns in einer kaum mehr überschaubaren Menge, kostenlos, immer, überall. Allein: Der Nachrichtenwert, also der Nutzen für den Konsumenten, nimmt dadurch nicht etwa zu, sondern verliert deutlich an Substanz. Quantität übermannt Qualität.

Und wie reagiert die Medienbranche? Statt dieser Entwicklung entschieden mit eigenen, professionell gefertigten und selbst vermarkteten Angeboten entgegenzuwirken, verschärft sie den Trend, indem redaktionelle Inhalte bei Facebook und Co. veröffentlicht werden.

Der fatale Effekt: Nicht die publizistische Aufbereitung entscheidet über den Wert und die Reichweite journalistischer Inhalte; ausschlaggebend sind vielmehr die Algorithmen der Netzwerke. Die Zeitungsredaktionen verlieren den Einfluss darauf, mit welchen Texten sie ihre Leser erreichen. Der Journalismus kanibalisiert sich also selbst. Das hat Auswirkungen auf das systemische Gefüge einer freien Gesellschaft, die verheerend sein können.

"Mit dem Prinzip Tageszeitung geht ein Moment der bewusst gewählten intellektuellen Konzentration und sozialen Ruhe verloren", schreibt Stefan Schulz in seinem Buch mit dem Titel "Redaktionsschluss - Die Zeit nach der Zeitung", und: "Wir fühlen uns allwissend, sind aber orientierungslos."

Besserung ist nicht in Sicht. Kurzsichtig aktuellem Profitstreben unterworfen, vernachlässigt der Profi-Journalismus in seiner Hilflosigkeit Tugenden, die ihn ausmachen: tiefschürfende Recherche, ausführliche Erläuterung, sprachliche Brillanz.

Welche Auswirkungen das auf die Wahrnehmung gesellschaftlicher Vorgänge, auf politische Willens- und intellektuelle Niveaubildung hat, analysiert Schulz selbstbewusst, klar, zum Streit bereit - und einleuchtend.

Unmittelbare Interaktion Dabei nutzt er die mediale Entwicklung in den USA als Glaskugel zur Vorhersage absehbarer Trends auch hierzulande. Zum Beispiel im Wahlkampf. Der Journalismus dient immer weniger als analytischer Vermittler von Botschaften zwischen werbender Politik und umworbenem Wähler. Über die so genannten sozialen Netzwerke lässt sich eine unmittelbare Interaktion herstellen, die den Umweg über den Journalismus aus Sicht der Politik überflüssig macht.

Gleichzeitig schöpft die Politik für sie relevante Daten des Wahlvolkes direkt im Internet ab und nutzt sie für ihre Zwecke, etwa zur gezielten Kontaktaufnahme mit unentschlossenen Wählern. Ein System, in dem die journalistische Einordnung, die hintergründige Analyse beispielsweise von Wahlkampf-Aussagen auf der Strecke bleiben.

Stefan Schulz, Jahrgang 1983, weiß übrigens, wovon er schreibt: Der studierte Soziologe arbeitete zunächst als Blogger, bevor ihn der jüngst verstorbene Herausgeber Frank Schirrmacher zur "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" holte. Inzwischen ist Schulz freier Publizist.

Und der Autor lässt seiner Analyse in diesem keineswegs nur für Fachleute lesenswerten Buch Taten folgen: Derzeit bereitet er mit Kollegen die Gründung einer Tageszeitung vor. Wohl um zu beweisen, dass noch lange nicht für alle Zeiten Redaktionsschluss sein muss. Wenn man es nur richtig anstellt.