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sPANIEN : Die Angst vor Neuwahlen nach den Neuwahlen

Die Bürger haben gerade erst gewählt. Weil sich die Parteien aber nicht auf eine neue Regierung einigen konnten, müssen sie am 26. Juni schon wieder abstimmen

13.06.2016
2023-08-30T12:30:02.7200Z
4 Min

"Ich kann Ihnen versichern, dass es keine dritten Wahlen geben wird", sagte Pedro Sánchez, Chef der Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE), Ende Mai bei einem Treffen mit spanischen Wirtschaftsführern. "Niemand wird so unverantwortlich sein, dritte Wahlen zu provozieren", sekundierte eine Woche später der amtierende Regierungschef und Präsident der konservativen Volkspartei (PP), Mariano Rajoy. Und auch Pablo Iglesias von Podemos und Albert Rivera von Ciudadanos sind "überzeugt", dass ein dritter Wahlgang zum spanischen Parlament verhindert werden kann. Der zweite steht am 26. Juni an, mehr wollen alle Parteien den Wählern nicht zumuten. Was ist schief gelaufen im vergangenen halben Jahr? Erst am 20. Dezember hatte Spanien ein großes demokratisches Fest gefeiert. Viele Spanier waren damals mit lange nicht erlebter Begeisterung zu den Urnen gegangen. Zum ersten Mal seit mehr als 30 Jahren entschieden sie nicht mehr nur den üblichen Zweikampf zwischen PP und PSOE, sondern einen Vierkampf, erweitert um die linke Podemos und die liberalen Ciudadanos. Doch nach dem Fest kam der Kater. Der frische Wind der Erneuerung brachte die Unregierbarkeit mit sich. Den Parteien, den alten wie den neuen, fehlte die politische Reife, um sich auf ernsthafte, immer undankbare Koalitionsverhandlungen einzulassen. Und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie aus ihren schlechten Erfahrungen gelernt hätten. Auf keinen Fall Neuwahlen nach den Neuwahlen, sagen sie. Aber wie sie diesmal eine Regierung auf die Beine zu stellen gedenken, verraten sie nicht.

Gescheitert sind die Parteien an ihrer Unfähigkeit, ideologische Gräben zu überspringen. Wenn es ihnen die Wähler doch einfacher gemacht hätten: mit einer klaren Mehrheit für ein linkes Bündnis aus PSOE und Podemos oder alternativ für ein bürgerliches Bündnis aus PP und Ciudadanos. Doch die Mehrheitsverhältnisse sind nicht so. Denn neben den vier großen sitzt noch ein bunter Strauß von kleinen und Kleinstparteien im spanischen Parlament, die meisten von ihnen Regionalparteien vor allem aus Katalonien und dem Baskenland. Die einzige rechnerisch denkbare Koalition aus bloß zwei Parteien wäre die Große Koalition aus PP und PSOE. Mariano Rajoy wäre für ein solches Bündnis zu haben, doch er selbst ist dessen größtes Hindernis. Er ist zu tief in etliche Korruptionsskandale seiner Partei verwickelt, um für die Sozialisten wählbar zu sein.

Die Affären um illegale Parteienfinanzierung und die Annahme von Bestechungsgeldern für die Vergabe öffentlicher Aufträge haben die PP nach vier Jahren absoluter Sitzmehrheit bei den Wahlen am 20. Dezember auf unter 30 Prozent fallen lassen. Doch obwohl in den vergangenen Monaten immer noch neue Skandale ans Licht gekommen sind, hat die Partei ihren weiteren Niedergang offenbar stoppen können. Nach den Umfragen wird die PP aus den Wahlen am 26. Juni wieder als stärkste Kraft hervorgehen, vielleicht sogar mit einem leichten Plus im Vergleich zu den Dezemberwahlen. Die glaubwürdigste Erklärung für ihre Widerstandskraft: die Furcht vieler Spanier vor den neuen Linken.

Der Wunsch nach einem politischen Neuanfang in Spanien nach den Verheerungen der schweren Wirtschaftskrise von 2008 bis 2013 hat die erst vor zwei Jahren gegründete linkspopulistische Partei Podemos ("Wir können") in kürzester Zeit zu einer der stärksten Kräfte im Land gemacht. Es sieht danach aus, dass sie nach den kommenden Wahlen noch stärker sein wird: Podemos hat sich im Mai mit der Vereinten Linken - einem Bündnis rund um die Kommunistische Partei - zu einer Wahlallianz zusammengetan. Die nennt sich Unidos Podemos ("Gemeinsam können wir"), und die jüngsten Umfragen geben ihrem Namen Recht: Voraussichtlich wird sie an der PSOE vorbeiziehen und zur zweiten Kraft in Spanien werden. Die liberalen Ciudadanos ("Bürger") bleiben mit leichten Stimmenverlusten an vierter Stelle.

Pablo Iglesias, 37-jähriger Madrider Politologe, Gründer und Chef von Podemos, der noch nie unter mangelndem Selbstbewusstsein litt, hat allen Grund, immer noch selbstbewusster aufzutreten. Schon nach den Dezemberwahlen glaubte er, allen anderen seine Bündnisbedingungen diktieren zu können. Er wird nach den Juni-Wahlen nicht bescheidener sein. Sein größter Feind ist aber immer noch die Arithmetik: Zu einer absoluten Mehrheit von Unidos Podemos und PSOE wird es absehbar wieder nicht reichen. Möglicherweise entschließen sich die Sozialisten deswegen aus Staatsräson doch noch zur Einwilligung in eine Große Koaliton. Alles ist offen. Die Wahlen werden den spanischen Politikern das Leben wahrscheinlich nicht leichter machen.

Spanien braucht bald eine Regierung. Die Wirtschaft wächst gerade und die Arbeitslosigkeit sinkt, aber das Land muss eine Richtungsentscheidung treffen: Soll der Staat immer weiter schrumpfen, mit sinkenden Steuern und sinkenden Ausgaben, so wie es sich PP und Ciudadanos vorstellen? Oder folgt Spanien dem westeuropäischen Modell mit einer deutlich höheren Steuer- und Staatsquote als bisher? Das wäre die Strategie von Podemos. So oder so dürfen sich die europäischen Partner Sorgen machen: Weder die Linken noch die Bürgerlichen glauben, dass sie das spanische Haushaltsdefizit in nächster Zeit in den Griff bekommen werden - die einen, weil sie Steuern senken, die anderen, weil sie Ausgaben erhöhen wollen. Jetzt müssen die Spanier entscheiden, wer von ihnen demnächst den Zorn Brüssels und Berlins auf sich ziehen soll.

Der Autor ist freier Journalist in Madrid.