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NATO : Rhetorik des Säbelrasselns

Die Beziehungen zwischen Russland und der Allianz sind geprägt von gegenseitigem Misstrauen

11.07.2016
2023-08-30T12:30:04.7200Z
6 Min

Die russischen Staatsmedien sind dankbare Abnehmer der PR-Bilder, die die Nato von ihren Manövern produziert. Zuletzt waren es die Bilder von den Manövern "Anaconda" und "Saber Strike" in Polen und im Baltikum. Bessere Beweise für die akute Bedrohung Russlands durch das westliche Bündnis kann es aus russischer Sicht kaum geben. Die Moskauer Militärexperten bewerten die Aufstockung der rotierenden Nato-Einheiten im Baltikum und in Polen auf 4.000 Soldaten zwar nur als symbolische Geste. Das hält die politische Klasse in Moskau aber nicht davon ab, diese "Speerspitze" als Bestätigung für ein vermeintlich aggressives Vorgehen der Nato hochzureden. Auch Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) warnte das westliche Bündnis davor, "durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul die Lage weiter anzuheizen". Der bekannte russische Soziologe Lew Gudkow hingegen kritisierte die "antiwestliche Mobilisierungsrhetorik des Kremls gegenüber dem Feind im Western", die eine "Mythologie der ewigen Auseinandersetzung" bediene und von der Wirtschaftskrise im Land ablenken soll.

Sicherheitsstrategie "Das Aufstocken des militärischen Potenzials der Nordatlantischen Allianz und ihre Übernahme globaler Funktionen, die völkerrechtswidrig durchgesetzt werden, bedrohen die nationale Sicherheit Russlands", heißt es in der aktuellen Sicherheitsstrategie der Russischen Föderation. Per Erlass wurde sie von Präsident Wladimir Putin am 31. Dezember 2015 in Kraft gesetzt und bildet die Grundlage der russischen Sicherheitspolitik. Unmissverständlich bewertet diese Strategie "die Aktivierung der militärischen Tätigkeit des [Nato-]Blocks" und die Ausdehnung ihrer militärischen Infrastruktur bis an die russischen Grenzen als Bedrohung. Natürlich wolle Russland seine Beziehungen zur Nato weiterentwickeln, allerdings auf der Grundlage "der Gleichberechtigung". Dazu gehöre, dass die Allianz die "berechtigten Interessen Russlands" anerkennt und auf ihre "negative Einflussnahme auf die russischen nationalen Interessen" verzichtet: Dies gilt insbesondere für das Ziel Moskaus, die Ukraine in die Eurasische Union einzugliedern.

Solange wir "bitter arm und schwach waren", hatten die westlichen Politiker Russland "lieb", sagte Putin in einem Interview im Frühjahr 2015. "Nachdem wir uns erhoben haben", wolle "man" Russland "wieder auf die Knie zwingen". Auch bei öffentlichen Auftritten verkündet der Präsident, seit Jahrhunderten wolle man "unsere Stärke eindämmen". Ebenso häufig erwähnt er die "Erniedrigungen", die Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion habe erdulden müssen. Die Ursache dafür liege allein in den berechtigten "geopolitischen Interessen" seines Landes. Zu dieser Rhetorik passt, dass Putin nicht etwa seine Ukraine-Politik für die westlichen Sanktionen verantwortlich macht: "Es war nicht wegen der Krim, sondern weil wir unsere Souveränität, das Existenzrecht unseres Staates, verteidigen."

Raketenabwehr Kein Geringerer als Andrej Kokoschin, vormals Sekretär des Sicherheitsrates, glaubt, dass die aktuelle geopolitische Lage mit der Situation vor 1941 vergleichbar sei, als die Wehrmacht an die sowjetische Grenze vorrückte. Der bekannte Sicherheitsstratege beschwört den Kreml, Stalins Fehler nicht zu wiederholen und sich dieses Mal auf einen Angriff vorzubereiten: Die Stationierung von Nato-Truppen an den russischen Grenzen müsse ebenso verhindert und bekämpft werden wie das geplante Raketenabwehrsystem in Osteuropa. Auch Putin ist davon überzeugt, dass die USA das strategische Gleichgewicht zwischen den beiden Nuklearmächten aushebeln und mit dem Raketenabwehrsystem Russland die Möglichkeit zum nuklearen Gegenschlag nehmen wollen.

Da Washington alle Versuche Moskaus abgeschmettert hatte, ein gemeinsames Raketenabwehrsystem zu entwickeln, wollte der Kreml zumindest die europäischen Nato-Partner der USA gegen die Raketenabwehr einnehmen - erfolgslos. In der nationalen Sicherheitsstrategie wird die Stationierung der NATO-Raketenabwehrsysteme daher konsequent als Bedrohung des strategischen Gleichgewichts abgelehnt. Moskau reagierte mit der Entwicklung neuer schlagkräftigerer Waffensysteme, die den Raketenabwehrschild durchbrechen können. Der Leiter des Zentrums für globale Sicherheit der Russischen Akademie der Wissenschaften, Alexej Arbatow, meint sogar, die Raketenabwehr der Nato könne höchstens zwei bis drei Prozent der russischen Atomraketen abfangen.

Nach der Auflösung des Warschauer Paktes und dem Zerfall der UdSSR hatten sich die Beziehungen zwischen Russland und der Nato zunächst ohne größere Konflikte entwickelt: Im Jahre 1994 wurde Russland in das Programm "Partnerschaft für den Frieden" aufgenommen; daraus entstand eine enge Zusammenarbeit im Rahmen des Nato-Russland-Rates. Im Mai 1997 unterzeichneten Moskau und die Allianz eine "Grundakte" über ihre friedlichen Absichten und versprachen, ihre Souveränität und territoriale Integrität gegenseitig zu respektieren.

Nach seinem Amtsantritt im Mai 2000 setzte Präsident Putin die partnerschaftlichen Beziehungen mit der Nato fort. Er verkündete sogar, Russland schließe einen Beitritt zum westlichen Bündnis nicht aus. Weitere "vertrauensbildende Maßnahmen" folgten, darunter die Ratifizierung des START-II-Vertrages durch die russische Staatsduma, die Putins Vorgänger Boris Jelzin nicht hatte durchsetzen können.

ABM-Vertrag In Putins erstem Amtsjahr scheiterten jedoch alle diplomatischen Versuche, die US-Regierung von ihrem Raketenabwehrprogramm abzubringen. Daraufhin startete der Präsident eine "neue Friedensinitiative des Kremls": Am 13. November 2000 erklärte er, Russland sei bereit, die Zahl seiner strategischen Raketen bis 2008 auf 1.500 zu reduzieren. Sollten die USA jedoch einseitig aus dem ABM-Vertrag von 1972 zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen aussteigen, sehe sich Russland gezwungen, "zusätzliche Maßnahmen für die Aufrechterhaltung des strategischen Gleichgewichts zu treffen".

Washington beeindruckte Präsident Putins Engagement wenig. Ungerührt analysierte der US-Geheimdienst CIA noch im Frühjahr 2001, der russische Präsident verfolge das Ziel, die amerikanischen Interessen weltweit zu unterlaufen. Dabei gaben die USA damals für Rüstung hundert Mal mehr Geld aus als das tief verschuldete Russland. Präsident George W. Bushs Beraterin für Nationale Sicherheit, Condoleezza Rice, war sich sicher, dass Russland eine Gefahr für den gesamten Westen darstellten würde. Präsident Barak Obama setzte noch eins drauf, als er 2015 drei schwere Bedrohungen für den Weltfrieden aufzählte und Russland in einem Atemzug mit der Ebola-Epidemie und dem "Islamischen Staat" nannte.

Nato-Osterweiterung Mit der größte Stachel in den Augen Moskauer Sicherheitspolitiker ist die Nato-Osterweiterung. Putin bediene sich gerne der "Legende vom Wortbruch", analysiert der Historiker Stefan Grenzberger in der Zeitschrift "Osteuropa" (3/2015). Danach habe der Westen Präsident Michail Gorbatschow und seinem Außenminister Eduard Schewardnadse während der "2+4"-Verhandlungen angeblich versprochen, keine neuen Nato-Mitglieder in Europa aufzunehmen. Doch Grenzberger belegt, dass es eine derartige Zusage nie gegeben hat.

Auch auf Nachfrage konnte sich Gorbatschow nicht daran erinnern, wann und wo über den Verzicht der Osterweiterung gesprochen worden sein soll. Vielmehr bestätigte Eduard Schewardnadse in einem Interview im September 2000, niemand habe ihm oder Gorbatschow versprochen, dass "die Nato nicht weiter nach Osten ausgedehnt" wird.

Tatsächlich reagierte der Kreml auf den Nato-Beitritt der drei baltischen Staaten im März 2004 ruhig und besonnen. "Es geht uns nichts an", meinte Verteidigungsminister Sergej Iwanow. Auch gegen Nato-Einsätze außerhalb ihres Bündnisgebietes erhob Moskau keine Einwände mehr: Mit Blick auf die Mission der Allianz in Afghanistan sagte der Kreml sogar seine volle Unterstützung in allen Bereichen der Militär- und Sicherheitspolitik zu, einschließlich Überflug- und Transitrechte. Gleichzeitig dachte Washington gar nicht daran, den Druck auf Russland zu reduzieren. Hilflos verfolgte der Kreml seit dem Jahr 2001 die Errichtung von weiteren US-Militärstützpunkten an den russischen Südgrenzen zu Georgien, Kirgistan und Usbekistan.

Russische Ohnmacht Die Intervention der USA im Irak im März 2003 offenbarte der Weltöffentlichkeit nicht nur die Ohnmacht der Vereinten Nationen im Allgemeinen, sondern auch die Bedeutungslosigkeit der "Supermacht a. D." Russland im Speziellen. Dies war bereits 1999 deutlich geworden, als Moskau im Sicherheitsrat den Kosovo-Krieg ablehnte, ohne dass dies Konsequenzen gehabt hätte; in der Libyen-Krise 2011 wiederholte sich das Spiel.

Der Kreml versucht seitdem, alle Kräfte zu mobilisieren, um dort, wo politische Erfolge möglich erscheinen, die eigene Machtposition zu festigen. Zugleich entschied sich Moskau, aktiv gegen die US-Dominanz im post-sowjetischen Raum vorzugehen. Zunächst konnte dieser Kurswechsel dank des steigenden Öl-Preises finanziert werden. In seiner Münchener Rede im Februar 2007 drohte Putin sogar mit der Kündigung des russisch-amerikanischen IFN-Vertrages von 1987, der die Produktion und Stationierung von Mittelstreckraketen mit nuklearen Sprengköpfen verbietet. Einer seiner Generäle wollte sogar die Stationierung der "Iskander"-Raketen in Kaliningrad nicht mehr ausschließen.

Die Nato reagierte kühl und setzte weiter auf die Abschreckung einer potenziellen russischen Aggression. Allerdings wurden Nicht-Mitglieder wie Georgien und die Ukraine in ihrer militärischen Auseinandersetzung mit Russland auch nicht direkt unterstützt. Dessen ungeachtet wurden die Konsultationen des Nato-Russland-Rates zunächst wegen des russisch-georgischen Krieges (August 2008) und später wegen der russischen Eroberung der Krim (März 2014) eingefroren.

Neuen Konfliktstoff bietet die von den USA geplante Modernisierung ihrer strategischen Nuklearwaffen ab 2020. Die geschätzten Kosten belaufen sich auf eine Trillion US-Dollar. Russland reagierte auf diese Pläne, indem zwei neue Raketenfabriken gebaut werden: Dort sollen künftig zehn Mal mehr Luftabwehrraketen vom Typ S-400 und S-500 produziert werden als heute.

Der Autor ist Forschungsstipendiat der Gerda Henkel Stiftung.