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SEXUELLE GEWALT : Gewaltige Dunkelziffer

Nur ein Bruchteil aller Sexualstraftaten wird angezeigt. Statistiken haben daher nur geringe Aussagekraft

18.01.2016
2023-11-08T12:41:31.3600Z
5 Min

Fast jede Frau hat eine solche Situation schon einmal erlebt. Es ist dunkel, sie ist allein und ihr kommt ein Mann entgegen. Nicht wenige Frauen beschleicht da ein ungutes Gefühl. Aus Angst vor einem sexuellen Übergriff senken sie den Blick, beschleunigen den Schritt oder wechseln die Straßenseite.

Die Exzesse in der Silvesternacht rund um den Kölner Hauptbahnhof und in anderen deutschen Städten haben den Blick nun auf einen besonders heiklen Aspekt des Themas sexuelle Gewalt gelenkt: auf Straftaten, die von Menschen mit Migrationshintergrund vor allem aus dem islamischen Raum begangen werden.

Die Öffentlichkeit diskutiert seither die Frage: Müssen Frauen vor muslimischen Männern mehr Angst haben als vor anderen, wie es nach Köln viele unterstellen?

Ein Blick in die polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes (BKA) zeigt: 2014 wurden in Deutschland knapp 47.000 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung registriert, darunter 7.345 Fälle von Vergewaltigung und sexueller Nötigung. Von den über 6.000 Personen, die in Verdacht standen, eine Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung begangen zu haben, hatten 4.251 die deutsche Staatsangehörigkeit. 1.911 kamen aus dem Ausland. Damit lag der Ausländer-Anteil bei 31 Prozent.

Deutlich niedriger lag der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Von den knapp 30.800 Menschen, denen eine solche Tat vorgeworfen wurde, stammten 18 Prozent aus dem Ausland. Darunter befanden sich 216 Asylbewerber und eine Asylbewerberin.

Der in diesen Tagen viel gehörte Vorwurf, die Polizei verschleiere die Herkunft der Täter, wird durch die Statistik widerlegt. Zwar berichtet Sebastian Fiedler, Vizechef des Bund Deutscher Kriminalbeamter, dass für die Pressearbeit der Polizei in Nordrhein-Westfalen aus Gründen des Minderheitenschutzes die Leitlinie gelte, die Herkunft oder Ethnie von Verdächtigen nur zu veröffentlichen, wenn es "für den Sachverhalt von besonderer Bedeutung ist". Doch in den Statistiken des BKA wird die Herkunft der Verdächtigen nach Nationen aufgeschlüsselt. Danach wurden im Jahr 2014 nicht nur mehr als 4.200 Deutsche, sondern unter anderem auch 475 Türken, 93 Italiener, 39 Syrer, 37 Marokkaner und 15 US-Amerikaner einer Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung verdächtigt.

In zwei Dritteln aller Fälle habe es laut BKA eine "Vorbeziehung" zwischen dem Opfer und dem oder den Tatverdächtigen gegeben. Die meisten Täter stammen also aus dem sozialen Umfeld der Opfer.

Doch helfen all diese Zahlen in der aktuellen Diskussion weiter? Strafrechtsexperten verweisen darauf, dass die Statistiken letztlich wenig aussagekräftig sind, da nur ein Bruchteil aller Sexualstraftaten überhaupt zur Anzeige gebracht werde. Nach einer Studie des Landeskriminalamts (LKA) Niedersachsen liegt der Anteil bei nur vier Prozent - ganz unabhängig davon, ob die Taten von Deutschen oder von Ausländern begangen werden. "Selbst bei erheblichen Opferschäden" würden die allermeisten Sexualdelikte nie der Polizei gemeldet, heißt es in der Untersuchung aus dem Jahr 2013. Nach Einschätzung des LKA Niedersachsen ist dieser Umstand darauf zurückzuführen, dass die Opfer oft unter Gefühlen von "Erniedrigung, Scham und Schuld sowie der Angst vor Ablehnung" litten und daher auf eine Anzeige verzichteten. Eine zentrale Rolle spiele aber auch, dass Täter und Opfer sich in der Mehrzahl der Fälle vorher kannten.

Doch auch bei Übergriffen durch Unbekannte zögern Frauen oft, Anzeige zu erstatten, wie auch nach der Silvesternacht von Köln deutlich wurde. Erst als die Medien breit über die Exzesse berichteten, stieg die Zahl der Anzeigen sprunghaft. Hinzu kommt, dass Verhaltensweisen wie Grapschen und Betatschen bisher nicht zwangsläufig strafbar sind. "Das geltende Strafrecht ist in dem Bereich lückenhaft", sagt Tatjana Hörnle, Strafrechtlerin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Grapschen gelte nicht als "erhebliche sexuelle Handlung". Wer überraschend - etwa aus einer Menschenmenge heraus oder in überfüllten Räumen - einen anderen Menschen anzüglich berühre, begehe nach geltender Rechtslage keine Straftat, betont Hörnle.

Bei der Bundestagsdebatte am 13. Januar über die Vorfälle der Silvesternacht waren sich alle Fraktionen einig, dass diese Lücken im deutschen Rechtssystem rasch geschlossen werden müssen. Ein Gesetzesentwurf, den Justizminister Heiko Maas (SPD) bereits im vergangenen Jahr vorgestellt hat, sieht vor, dass auch Überrumpelungen mit sexuellem Hintergrund unter Strafe gestellt werden. Mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren solle derjenige bestraft werden, der eine andere Person sexuell missbraucht, die "aufgrund der überraschenden Begehung der Tat zum Widerstand unfähig ist".

Strafrechtsexpertin Hörnle hält das für "eine erhebliche Verbesserung". Da Grapschen aber weiterhin nicht als "erhebliche sexuelle Handlung" eingestuft werden soll, verlangt sie zusätzlich die Einführung eines Straftatbestands der "tätlichen sexuellen Belästigung".

Das"Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt" - Istanbul-Konvention - von 2011 sieht bereits vor, dass jede sexuelle Handlung strafbar sein soll, die gegen den erklärten Willen des Opfers stattfindet. Es wurde von Deutschland aber noch nicht ratifiziert. Kritiker argumentieren unter anderem, dass in Fällen, in denen sich das wirkliche oder vermeintliche Opfer nur auf ein "Nein" zu sexuellen Kontakten beruft, die Beweislage äußerst schwierig werden könne. Das Justizministerium hat im Februar 2015 eine Kommission eingesetzt, die klären soll, ob eine generelle Überarbeitung des Sexualstrafrechts notwendig ist.

Christian Walburg, Kriminologe an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster und Experte für das Thema Ausländerkriminalität, glaubt, dass auch bei einer Verschärfung des Strafrechts in Zukunft viele Sexualdelikte nicht bei der Polizei angezeigt werden. Er weist ebenfalls darauf hin, dass die offiziellen Statistiken bei Straftaten mit sexuellem Hintergrund nur sehr eingeschränkte Aussagekraft haben. Dies sei bei Eigentumsdelikten anders. Hier zeigten die Zahlen, dass 2014 fast 23 Prozent aller eines Taschendiebstahls Verdächtigen aus Nordafrika stammten, was einen starken Anstieg gegenüber den Vorjahren bedeute, berichtet Walburg. Dabei handele es sich zumeist um junge Männer aus Ländern wie Marokko, Algerien und Tunesien, die nun auch als Hauptverdächtige der Silvesternacht von Köln gelten. "Aufgrund von Perspektivlosigkeit im Heimatland reisen die jungen, zum Teil noch minderjährigen Männer nach Europa ein und suchen hier Schutz als Flüchtlinge, ohne jedoch eine Aussicht auf Anerkennung zu haben", sagt Walburg. Häufig würden sie sich einer "Taschendiebstahl-Szene" anschließen, die es in vielen europäischen Großstädten gebe. In Deutschland existiert eine solche Szene nachgewiesenermaßen in Köln, Düsseldorf, Hamburg und wohl auch in Bremen. Die Taten würden häufig mit Körperkontakt und zum Teil auch in Verbindung mit sexuellen Belästigungen begangen, erklärt Walburg. Oft könne die Polizei jedoch keine derart schweren Straftaten nachweisen, die eine Ausweisung rechtfertigten. Einige nordafrikanische Länder sind bei fehlenden Reisedokumenten zudem nicht bereit, abgelehnte und ausgewiesene Asylsuchende zurückzunehmen.

Nach Überzeugung von Oliver Malchow, dem Bundesvorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei, hat jetzt erst der sexuelle Hintergrund der Taten von Köln dazu geführt, dass in einer breiteren Öffentlichkeit über den Zusammenhang von Migration und Kriminalität diskutiert wird. Polizeibeamte würden die Herkunft von Tätern oft nicht öffentlich machen, um mögliche Vorwürfe der Diskriminierung zu vermeiden, sagt er. Eine wichtige Rolle haben dabei laut Malchow auch die 2011 enttarnten Verbrechen der rechtsradikalen Terrorzelle NSU gespielt. Kein Polizist, betont Malchow, habe in den Verdacht geraten wollen, für Verbrechen dieser Art irgendeine Rechtfertigung zu liefern.