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Soziale Gerechtigkeit : Der ausgeträumte Traum

Wer hart arbeitet, kommt voran - dieses lang geltende Credo gilt für viele nicht mehr

27.12.2016
2023-08-30T12:30:13.7200Z
5 Min

Als Donald Trump in der Wahlnacht in New York an die Mikrofone tritt, spricht er den Satz aus, der ihn zum Präsidenten gemacht hat: "Die vergessenen Männer und Frauen dieses Landes werden nicht länger vergessen sein." Wen er meint? Den Stahlarbeiter in Indiana, den Kohle-Bergbau-Arbeiter in Pennsylvania, den Ladenbesitzer in Ohio. Den "kleinen Mann", der täglich kämpft, um seinen Alltag zu meistern. Trump hatte erfolgreich in sein Land hineingehört. Er kannte die Sorgen der Menschen und nannte sie beim Namen. Er wusste um das Leid und die Enttäuschung, die in den USA in vielen Regionen gärt. So wurde der Multimillionär, gegen jede Ratio, zur Hoffnung des kleinen Mannes.

Hillary Clinton dagegen schaffte es nicht, ihren lebenslangen Einsatz für Benachteiligte zu vermitteln. Sie erreichte in weiten Teilen Amerikas Künstler, Intellektuelle, Wissenschaftler, viele Städter, auch die Minderheiten. Für den "kleinen Mann" aber blieb sie vor allem eins: unnahbar und unglaubwürdig. Wie schon 2008, als sie im Vorwahlkampf gegen Barack Obama und seine Botschaft von "Change" verlor, überließ sie auch diesmal ihrem Kontrahenten den Stempel des Machers und der Andersartigkeit. Die Botschaft "Make America Great Again" des Polit-Outsiders Trump traf den Nerv der Zeit genauso wie das "Yes, we can!" des jungen Obama. Clinton übersah damals wie heute: Die Gräben innerhalb der US-Gesellschaft, die wirtschaftliche und soziale Schieflage, der Frust über die Elite, sie sind tiefer als sie es jemals waren - und der Wille nach Veränderung ist groß.

Land der Extreme Amerika war schon immer ein Land der Extreme. Einerseits: die weltweit meisten Millionäre, berühmte High-Tech-Medizin, das legendäre Silikon Valley, die weltbesten Hochschulen. Andererseits: Mangels Pflichtversicherung war Krankheit über Jahre ein zentraler Grund für Privatinsolvenzen. Studieren kann sich nur leisten, wer ein finanzstarkes Elternhaus im Rücken hat, oder sich nicht scheut, Kredite in astronomischen Summen aufzunehmen. Gute Schulen gibt es nur dort, wo reichlich Steuern fließen - in wohlhabenden Regionen. Das soziale Sicherheitsnetz ist dünn: Kündigungsschutz kennen die meisten Amerikaner nicht. Staatliche Hilfe wie Arbeitslosengeld gibt es nur unter strikten Bedingungen. Es muss zuvor meist eine bestimmte Lohnhöhe erreicht sein, zudem ist die Zahlung in der Regel auf 26 Wochen beschränkt. Viele Millionen Amerikaner leben unterhalb der Armutsgrenze. Im Vor-Wahljahr 2015 waren es 43,1 Millionen. Auch die Kinderarmut ist in einer der reichsten Nationen der Welt ein massives Dauer-Problem: Eins von fünf Kindern lebt in Armut.

Die Finanzkrise 2008 hat die Situation verschärft. Die folgende Rezession kostete fast acht Millionen Jobs. Die Krise zog auch die in ihren Sog, die sich bislang auf der sicheren Seite wähnten: die Mittelschicht. Selbst in gut situierten Regionen wie der US-Hauptstadt Washington D.C. prägten verbarrikadierte Häuser das Straßenbild, Zwangsversteigerungen enteigneten ihre Besitzer.

Zu den Ausläufern der Krise gesellten sich Effekte der Globalisierung, strukturelle Veränderungen in Schlüsselindustrien, Wandel durch Digitalisierung. Während Metropolen wie New York glänzen, bluten andere Regionen aus. Ganze Landstriche leiden bis heute unter hoher Arbeitslosigkeit, die Menschen haben - wenn überhaupt - nur eine schlechte Krankenversicherung, wer etwas verdient, verdient wenig. Für viele von ihnen hieß die Antwort auf ihre nun schon seit Jahren währende Misere: Trump wählen.

Weitere Zahlen zeigen, wie rau das Leben in den USA sein kann: In den vergangenen Jahren beantragten so viele US-Bürger Lebensmittelhilfen wie noch niemals zuvor. Sie erhielten über das "Supplemental Nutrition Assistance Program" eine Art staatliche Kreditkarte, um damit einkaufen gehen zu können. In der Spitze waren fast 48 Millionen Amerikaner auf diese Hilfe angewiesen - und dieser Wert stammt aus dem Jahr 2013, als der Ausbruch der Krise schon fünf Jahre her war. Aktuell liegt die Zahl der Bezieher noch immer bei mehr als 44 Millionen. Zum Vergleich: Im Vorkrisenjahr 2007 bekamen 26 Millionen staatliche Lebensmittelhilfe.

In Trumps Amerika ist der Begriff der "working poor" geläufig. Menschen schuften zu niedrigen Löhnen, teils sogar in mehreren Jobs gleichzeitig. Sie arbeiten als Pizzaverkäufer, Paketzusteller, Putzkräfte. Zum Leben reicht es dennoch kaum, selbst mit gesetzlichem Mindestlohn von 7,25 Dollar in der Stunde nicht. Laufende Kredite, hohe Gesundheitsausgaben und Lebenshaltungskosten lasten auf den Schultern der Familien. Die Folge: Vielen Menschen ist in den vergangenen Jahren ihr positives Grundgefühl abhanden gekommen, eigentlich ein Ur-Bestandteil der DNA jeden Amerikaners. Das lange geltende Credo: Wer hart arbeitet, kommt voran, es gilt im Amerika von heute für viele nicht mehr. Das große Versprechen von Glück und Wohlstand für alle ist gebrochen.

Das Ungleichheitsgefühl wird von Fakten gestützt: Seit 30 Jahren stagnieren die Löhne von Arbeitern und Angestellten, in den unteren Einkommensklassen sinken sie sogar, analysiert Politik-Professor Robert B. Reich, Arbeitsminister unter Bill Clinton, in seinem aktuellen Buch "Saving Capitalism - For the Many, not for the Few". Für die obersten Zehntausend sehe es dagegen immer rosiger aus. Reich zeigt: Mitte der 1960er Jahre verdiente ein CEO eines Großunternehmens durchschnittlich zwanzig Mal so viel wie sein Arbeiter, heute mehr als dreihundert Mal so viel. Nicht nur er beklagt: Die Schere bei Einkommen und Wohlstand geht immer weiter auseinander. Armut, Sorgen und Frustration schlagen sich inzwischen auf bittere Art und Weise nieder: Amerika wird von einer beispiellosen Heroin-Epidemie überrollt, es grassiert ein massiver Schmerzmittelmissbrauch.

Besonders verbreitet ist das Suchtproblem dort, wo die Struktur schwach und der Zuspruch für Trump groß ist, hat die Denkfabrik Brookings unlängst analysiert. Die Zahl der Suizide ist so hoch wie seit Mitte der Achtziger Jahren nicht mehr. Aktuelle Forschungsergebnisse der Princeton University zeigen: Amerikas weiße Männer mit niedrigem Bildungsniveau sterben wieder früher. Der Grund: Drogen, Alkohol, Selbstmord.

Es gibt Hoffnung: Trump erbt von Obama eine robuste US-Wirtschaft. Die Arbeitslosenquote liegt aktuell bei 4,6 Prozent. So niedrig war sie zuletzt vor neun Jahren. Der Optimismus bleibt aber gedämpft: "Trotz aller Verbesserungen glauben viele Millionen Amerikaner verständlicherweise, dass der Aufschwung an ihnen vorbeigegangen ist", erkennt die New York Times. Unqualifizierte Arbeiter müssten weiter schlecht bezahlte Jobs ohne verlässliche Planung und mangelnde soziale Sicherung verrichten. Haupternährer von Familien, die einst gute Jobs in der Produktion hatten, seien gezwungen Service-Jobs anzunehmen, wenn sie denn überhaupt einen Job finden. Es liegt nun an Donald Trump dafür zu sorgen, dass "die vergessenen Männer und Frauen" tatsächlich nicht länger vergessen sind.

Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Berlin. Sie hat von 2008 bis 2012 die Wirtschaftskrise in den USA miterlebt.