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GROßBritanien : Auf offener See

Londons Regierung macht Ernst mit dem Brexit. Doch vor dem EU-Austritt liegen viele Klippen und Untiefen

03.04.2017
2023-08-30T12:32:19.7200Z
7 Min

Weiß auf rotem Untergrund tickte die digitale Uhr auf der Webseite eines großen britischen Massenblatts am vergangenen Mittwoch die Minuten herunter. 729 Tage, 25 Stunden und 18 Minuten bis zum 30. März 2019 - dann ist der Brexit endlich da. Nicht wenige in Großbritannien können den Moment kaum erwarten, an dem sich ihr Land endlich von den "Fesseln" der Europäischen Union "befreit".

Premierministerin Theresa May gab dafür vergangenen Mittwoch mit dem Ausrufen von Artikel 50 des EU-Vertrags den Startschuss. Am Besten illustrierte am Tag darauf die Titelseite des "Guardian" das Gefühl, das viele Menschen auf den Britischen Inseln wie auf dem Kontinent umtreibt: das Königreich, plötzlich ein weißer, unbeschriebener Fleck auf der bunten europäischen Landkarte. Wo die Reise genau hingeht, das vermag niemand vorauszusagen.

Der wohl wichtigste Faktor wird besagte tickende Uhr. Nur zwei Jahre haben die Briten Zeit, um den übrigen 27 EU-Staaten (EU-27) den laut Premier May "bestmöglichen Deal" abzuringen. Es geht die Anekdote, dass es seinerzeit der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors war, der diese Daumenschrauben in Artikel 50 hineinschrieb. Kaum ein Land, so angeblich Delors' Denken, würde den Ausstieg mit einem so gnadenlosen Zeitlimit riskieren. In nur 24 Monaten Jahrzehnte der EU-Gesetze, Kooperationen und einhergehend wirtschaftlichen und politischen Verflechtung zu entwirren - ein Kamikaze-Kommando.

Die Briten aber sind eine Seefahrernation. Wenn sie sich zwischen Europa und der offenen See entscheiden müssten, dann immer für die letztere, wie Winston Churchill einst sagte. Das haben die Briten am 23. Juni 2016 getan. Jetzt finden sie sich auf der offenen See wieder und müssen den Kurs ausrichten nach dem Wind, der ihnen aus Europa entgegenbläst.

Angesichts des engen Zeitrahmens begann man in London wie Brüssel unmittelbar nach Ausrufen von Artikel 50 mit der Arbeit. Am vergangenen Donnerstag bereits brachte die britische Regierung als ersten Schritt ihre "Great Repeal Bill" ein. Ein Gesetz, mit dem rund 50.000 seit 1990 auf EU-Grundlage eingeführte Gesetze zunächst in britisches Recht übergehen, in der Folge auf ihre Relevanz überprüft und im Zweifelsfall aussortiert werden. Mit diesem Schritt will London für Unternehmen wie Privatpersonen Planungssicherheit herstellen. Gleichzeitig hebt das Gesetz den aus dem Jahr 1972 stammenden "European Community Act" auf, die Rechtsgrundlage für die EU-Mitgliedschaft.

Am Tag darauf gab Ratspräsident Donald Tusk stellvertretend für die EU-27 die mit Spannung erwarteten Leitlinien für die Verhandlungen mit den Briten heraus. Dieser Katalog ist die Vorlage für Michel Barnier, seitens der EU-Kommission Chef der Brexit-Verhandlungen.

Die Leitplanken, die Brüssel für die Gespräche aufstellt, sind stählern. So lehnen die EU-27 den Wunsch von Premierministerin May ab, die Verhandlungen über die Bedingungen für den Austritt als auch die über ein künftiges Freihandelsabkommen parallel zu führen. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte bereits unmittelbar nach Mays Inkraftsetzen von Artikel 50 betont, es müsse zuerst geklärt werden, wie die engen Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union entflechtet werden. May hingegen schreibt in ihrem Brief: "Wir denken, dass es notwendig ist, die Bedingungen unserer künftigen Partnerschaft neben denen für unseren Austritt zu verhandeln."

Nicht nur das steht nun nicht mehr zur Debatte. Darüber hinaus setzte Tusk fest, dass erst ein "ausreichender Fortschritt" gemacht sein müsse, bevor man mit dem zweiten Teil beginne. "Wann das so weit ist, bestimmt allein der Europäische Rat." Mithin auch, was "ausreichend" bedeutet. Möglicherweise könne es im Herbst 2017 so weit sein, so Tusk. In Großbritannien schlug diese in europäischen Ohren nüchtern, ja logisch klingende Ansage wie eine Bombe ein. Die EU-27 wollten die Briten in die Knie zwingen, keiften umgehend Vertreter der rechten Presse.

Weitere Prioritäten der EU-Leitlinien: Rechtssicherheit für Bürger und Unternehmen. Insbesondere geht es um Aufenthalts- und Arbeitsrechte der rund 3,2 Millionen EU-Bürger in Großbritannien. Zweites Topthema: Großbritanniens milliardenschwere Verpflichtungen während der EU-Mitgliedschaft. Und die schwierige Frage, wie eine "harte Grenze" zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland zu vermeiden ist.

So weit die Prioritäten, an die sich die EU-27 strikt halten wollen. Schon vor dem offiziellen Brexit-Prozess hatten die Mitgliedstaaten große Disziplin dabei bewiesen, keine informellen Zugeständnisse an London zu machen, um den eigenen Zusammenhalt nicht zu gefährden. Ende April werden die Staats- und Regierungschefs bei einem Sondergipfel zum Brexit die Leitlinien endgültig absegnen. Mitte Mai, so der Plan, kann Barnier dann wirklich loslegen.

Nur 18 Monate hat der Franzose, ein ehemaliger EU-Kommissar, für die hochkomplexen Gespräche angesetzt. Dabei muss Barnier zwei sehr unterschiedliche Aufgaben abarbeiten. "Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird", so der Wortlaut von Artikel 50.

Aber es gibt auf der unmittelbaren Scheidungsagenda noch zwei andere Punkte, die für Ärger sorgen werden: Das Geld, das die Briten nach Meinung der EU-27 der Union schulden und der Status der EU-Ausländer. Beide Punkte sind zentral für das Ausstiegsabkommen.

Was den Status der EU-Ausländer in Großbritannien und der Briten in den EU-27-Staaten angeht, so findet sich auf beiden Seiten ein moralisches Verantwortungsgefühl, die Betroffenen nicht lange in Unsicherheit leben zu lassen. Doch das Kleingedruckte ist kompliziert. Auf welches Recht kann sich diese Gruppe künftig berufen: EU-Recht oder britisches? Die Frage kann Auswirkungen haben auf Alterssicherung und Krankenversorgung.

Die Schuldenfrage bringt die Emotionen im Königreich schon jetzt zum Kochen. Angeblich sind es 60 Milliarden Euro, die London vor dem Austritt zahlen soll. Es sind Forderung an die Briten aus zugesagten Geldern für EU-Projekte, Strukturfonds, Forschungsprojekte, Pensionszusagen und andere Maßnahmen. Die Lösung dieser Frage wird für die EU-27 zum Lackmustest. "Verpflichtungen sind einzuhalten. Wenn es da an grundsätzlichem Verständnis aufseiten der Briten mangelt, wie soll dann Vertrauen für den Rest der Verhandlungen entstehen?", sagt ein hoher EU-Diplomat.

May hatte zwar in ihrer Europa-Rede im Januar verkündet: "Die Tage, in denen Großbritannien jedes Jahr riesige Summen an die EU zahlte, sind vorbei." Doch im Artikel-50-Brief klingt sie konzilianter: "Wir werden diskutieren müssen, wie wir eine faire Einigung über die Rechte und Pflichten Großbritanniens finden, im Einklang mit dem Recht und dem Geist der anhaltenden Partnerschaft Großbritanniens mit der EU."

Ein weiteres heikles Thema auf der Scheidungsagenda ist nordirische Frage. Muss es dort wieder eine physische Grenze geben, weil Großbritannien aus dem EU-Binnenmarkt und aus der Zollunion aussteigt? Sowohl Barnier als auch May wiederholen immer wieder, dass der Erhalt des fragilen Friedens in Nordirland über allem anderen steht. Doch bisher kann niemand die Frage beantworten, wie die britische Forderung nach einer Kontrolle der Zuwanderung auf britisches Territorium als auch die zu erwartende Wiedereinführung von Handelsschranken praktisch gelöst werden können.

Die Themen, die für den "Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt" werden müssen, sind mannigfaltig. Von Fragen des gegenseitigen Zugangs der Wirtschaftsbranchen über Kooperationsabkommen von Forschungs- und Lehrinstitutionen bis hin zur EU-Zuwanderung. Nicht zu vergessen das heikle Thema Sicherheit, in Hinsicht auf die Kooperation von Polizei und Geheimdiensten, im Umweltbereich oder bei der Nukleartechnik.

Für May sind dies nur die größten der externen Brexit-Hürden. Zu Hause sind die Herausforderungen nicht minder groß. Vergangene Woche gab das schottische Parlament Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon ein Mandat für die Verhandlungen mit London über ein neuerliches Unabhängigkeitsreferendum. Doch May, die allein ein solches autorisieren kann, hat bereits entschieden, dass sie keine weitere Volksbefragung vor dem Brexit 2019 zulassen wird. Damit werden die Schotten gegen ihren Willen aus der EU gezwungen.

Das Gefühl der Machtlosigkeit schürt die nationalistische Stimmung im Norden. May wird Edinburgh deshalb vermutlich die Rückgabe wichtiger Kompetenzen zusagen, die durch den Brexit an die Briten zurückgehen. Auch in Nordirland wächst die Unzufriedenheit mit London, der sich die irischen Republikaner von Sinn Féin bedienen. Und selbst in Wales, das im Juni 2016 für den Ausstieg stimmte, macht sich Stimmung gegen London breit.

Ganz am Ende des Verhandlungsprozesses muss May dann noch einmal zwei riesige Hürden überwinden: Die Abstimmung über den Brexit-Deal in ihrem Parlament und die im Europäischen Parlament. Jene im heimischen Abgeordnetenhaus scheint für die Regierung zumindest kontrollierbar. Unterhaus und Lords können nur zustimmen oder ablehnen. Sie haben kein Mandat, die Premierministerin zurück an den Verhandlungstisch zu schicken - wozu aber ohnehin eine Verlängerung der Zwei-Jahres-Frist durch den Europäischen Rat notwendig wäre.

Jetzt aber schon zeichnet sich ab, dass das EU-Parlament den Deal am Ende kippen könnte. Die Parlamentarier wärmen sich bereits für die große Brexit-Schlacht auf. Ein vor wenigen Tagen durchgestochener Entwurf für eine Resolution macht die scharfe Kante deutlich, mit der die Abgeordneten London konfrontiert sehen wollen. Die Briten dürften nicht einmal der Mitgliedschaft "ähnliche" Bedingungen bekommen. Für die Beziehung zum EU-Binnenmarkt und insbesondere bei den Vereinbarungen im Finanzsektor dürfe es keine Extrawürste geben. Und etwaige Übergangsfristen, die London mit Sicherheit brauchen wird, müssten auf drei Jahre beschränkt sein. Zwar wäre eine solche Resolution nicht bindend. Doch das EP hat die Macht, den kompletten Deal am Ende des Brexit-Verhandlungen mit einfacher Mehrheit zu kippen. Der Ball wird ganz zum Schluss dieses historischen Prozesses wieder im Herzen der EU liegen.

Die Autorin ist Korrespondentin der "Welt" in London.