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Arbeitsmarkt : Die Zäsur der Agenda 2010

Die Konjunktur brummt. Dennoch sinken die Reallöhne für viele Beschäftigte seit Jahren

18.04.2017
2023-08-30T12:32:19.7200Z
3 Min

Wer sich aktuelle Zahlen zum Arbeitsmarkt in Deutschland anschaut, wird zuerst mit guten Nachrichten konfrontiert: Im März 2017 lag die Arbeitslosenquote bei sechs Prozent, mit knapp 43 Millionen Erwerbstätigen war diese Zahl 2016 so hoch wie seit 1991 nicht mehr. Ist also alles gut?

Bei der Präsentation solcher Zahlen verweisen Politiker gern auf die Agenda 2010, die Arbeitsmarkt- und Sozialreform der Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD). 2003 galt Deutschland mit mehr als vier Millionen Arbeitslosen als der "kranke Mann Europas". Was folgte, war die umfassendste sozialpolitische Reform seit Bestehen der Bundesrepublik. Mit ihr allein lassen sich die Arbeitsmarktdaten nicht begründen, betonen dagegen Wirtschaftswissenschaftler und verweisen auf die Exportstärke des Landes.

Hauptsächliches Ziel der 2002 eingesetzten "Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" unter Leitung des VW-Personalvorstands Peter Hartz war, die Strukturen der Bundesanstalt für Arbeit zu erneuern und die Arbeitslosenzahlen zu halbieren. Die Reform des Arbeitsmarktes wurde dabei in einzelne Gesetze (Hartz I, Hartz II, Hartz III und Hartz IV) aufgeteilt, die schrittweise zwischen 2003 und 2005 in Kraft traten.

Wahlkampfthema Neben dem Aufbrechen verkrusteter Strukturen ging es jedoch um weit mehr: eine umfassende Liberalisierung des Arbeitsmarktes und Leistungskürzungen und Sanktionen für Arbeitssuchende. Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe wurden abgeschafft und stattdessen das Arbeitslosengeld I und II eingeführt. Letzteres besser bekannt unter "Hartz IV" und schon oft korrigiert. Das Arbeitslosengeld I wurde grundsätzlich auf 12 Monate begrenzt, danach gibt es das deutlich niedrigere und an strengere Auflagen gekoppelte ALG II. Davor können einen also auch jahrzehntelange Beiträge zur Arbeitslosenversicherung nicht schützen. Ein Umstand, den SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz nun als Wahlkampfthema definiert hat, indem er ankündigte, die Bezugsdauer des ALG I für ältere Arbeitslose wieder verlängern zu wollen.

Liberalisiert wurden außerdem die Bedingungen für den Einsatz von Leiharbeitern. In der Folge kletterte deren Zahl rapide. Heute liegt sie bei rund einer Million, auch wenn die Leiharbeit jüngst wieder stärker reglementiert wurde. Auch die Zahl der Minijobber stieg stark an, nachdem die Verdienstobergrenze für geringfügig Beschäftigte von 325 auf 400 und später 450 Euro gestiegen ist. Heute arbeiten fast fünf Millionen Beschäftigte ausschließlich in einem Minijob, weitere 2,6 Millionen tun dies im Nebenverdienst. Minijobs sind aber nur selten, wie ursprünglich geplant, eine Brücke in feste Vollzeitjobs und verdrängen diese zum Teil, wie Forscher des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) kritisieren.

Ein stetig wiederkehrendes Streitthema ist der große Niedriglohnsektor in Deutschland. Zwar gibt es seit 2015 einen gesetzlichen Mindestlohn von derzeit 8,84 Euro pro Stunde. Dennoch liegt der Anteil von Beschäftigten mit einem Stundenlohn von unter zehn Euro seit Jahren konstant bei 20 Prozent - einer der höchsten Werte in der EU. Befürworter der Agenda 2010 verweisen darauf, dass diese Entwicklung bereits Mitte der 1990er-Jahre eingesetzt hat. Der Beschäftigungsanstieg seit der Agenda 2010 gehe vor allem auf das Konto von Niedriglohn-, Mini- und Teilzeitjobs, rechnen dagegen Agenda-Kritiker vor. Fest steht: Die Ungleichheit der Einkommen bleibt seit der Agenda 2010 auf konstant hohem Niveau. Die Reallohngewinne von fast der Hälfte der Beschäftigten (40 Prozent) sinken seit 20 Jahren.