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Kommunikation : Im Dickicht der Öffentlichkeit

Wie Digitalisierung und Internet die Strukturen der liberalen Demokratie aushöhlen können

03.07.2017
2023-08-30T12:32:24.7200Z
7 Min

Im alten norddeutschen Märchen vom Hase und Igel, das auch in die Sammlung der Gebrüder Grimm aufgenommen wurde, sind die Chancen ungleich verteilt. Denn die beiden materiell extrem unterschiedlichen Protagonisten verabreden ein Wettrennen. Doch so sehr sich der flinke Hase dabei auch anstrengt, am Schluss seiner Läufe findet er den kurzbeinigen Igel immer schon am Ziel vor. Natürlich steckt dahinter eine bösartige List, die der hetzende Hase nicht erkennt. Zwar geht das stachelige Tierchen mit an den Start, lässt aber nach wenigen Schritten das Langohr davonstürmen. Denn am Ende der Strecke hat er sein ebenbildliches Frauchen postiert, das die triumphierende Botschaft verkündet: "Ich bin schon da." Dieses Spiel wiederholt sich ständig erneut, bis schließlich der düpierte Hase, völlig erschöpft, die Wette mit seinem Leben bezahlt.

Was in den letzten Wochen um das Netzwerkdurchsetzungsgesetz im Bundestag geschah, erinnert ein bisschen an das Szenario aus der überlieferten Fabel. Da versucht die Politik seit Jahren, die Betreiber der sozialen Netzwerke von einer strengeren Überwachung der Hasskriminalität zu überzeugen. Doch von Google, Facebook und Co. hieß es lange: Wir sind schon da. Als dann Justizminister Heiko Maas (SPD) versuchte, mit einer Gesetzesinitiative, die das Bundeskabinett billigte, die gemächlichen Plattform-Unternehmen zu überholen, schien der Politik bald die Puste auszugehen. Denn gegen eine solche juristische Regelung formierte sich innerhalb und außerhalb des Parlaments heftiger Widerstand, weil viele Kritiker das Grundrecht der Meinungsfreiheit bedroht sahen und eine unangemessene Zensur in den Netzwerken befürchteten. Ein Kompromiss zwischen den Regierungsparteien verhinderte, dass das Vorhaben auf der Strecke blieb. Im Kehraus der Legislaturperiode - quasi auf den letzten Metern - verabschiedete der Bundestag schließlich doch das an manchen Stellen umformulierte Gesetz. Ende des Wettrennens? Wohl kaum. Denn die Spannweite der Dilemmata, die die neuen technologischen Kommunikationsformen gesellschaftlich verursachen, bleibt immens.

Kontrolle und Impuls Ganz gewiss gehört eine funktionierende politische Öffentlichkeit zum unverzichtbaren Kernbestand einer liberalen Demokratie, sei es als Kontrolle oder Impuls für die Strukturen und Institutionen dieses offenen Gesellschaftsmodells. Nur so werden Kompromissfähigkeit und Konsensbildung als Kennzeichen und Ergebnis demokratischer Diskursprozesse ermöglicht und erreicht. Nicht von ungefähr gehört es zum Bestreben autoritärer Regime, eine kritisch agierende Öffentlichkeit mit Meinungs- und Pressefreiheit zu behindern, gar zu zerstören, wie die Autokraten Putin in Russland und Erdogan in der Türkei immer wieder anschaulich beweisen. Und Viktor Orban in Ungarn steht ihnen mit entsprechenden Bemühungen zur Einhegung der Meinungsfreiheit innerhalb seiner formalen Demokratie kaum nach. Aber auch straffreie Räume, in denen die Gegner und Feinde der Demokratie ihre Hasstiraden und Gewaltdrohungen hemmungslos verbreiten können, sind mit diesem liberalen System nicht vereinbar. Gerade die Deutschen sollten dagegen immunisiert sein aufgrund der deprimierenden Erfahrung des selbstzerstörerischen politischen Fiaskos in der Endphase der Weimarer Republik.

Es war der Philosoph Jürgen Habermas, der den "Strukturwandel der Öffentlichkeit" vor über fünf Jahrzehnten als historischen Prozess der Emanzipation und Partizipation ausgearbeitet hat. Für den renommierten Wissenschaftler ist deshalb das "Gebot einer politisch fungierenden Öffentlichkeit" in heutigen Massendemokratien unumgänglich. Zwar meldete Habermas, ganz Frankfurter Schule, eine gewisse Skepsis gegenüber den kapitalistischen Eigentumsverhältnisse an, gerade im Bereich der Medien. Aber er fühlte sich mit seinen Thesen angesichts der revolutionären Umwälzungen in Osteuropa gegen Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre ausdrücklich bestätigt. In der Tat: Damals agierte eine kritische Öffentlichkeit als Element und Motor der Aufstände und der Transformation. Die Wucht einer aufbrechenden kritischen Öffentlichkeit wiederholte sich noch einmal bei der Arabellion, schon mithilfe des Internet. Doch gerade der "Arabische Frühling" lieferte handfeste Beispiele dafür, wie das Abwürgen einer kritischen Öffentlichkeit den Beginn eines regressiven Systems signalisiert. Dennoch ist ein solches Bild der Öffentlichkeit längst obsolet, es ist die Darstellung des Gestern. Denn die "Gutenberg-Galaxis", wie der kanadische Literaturwissenschaftler Marshall McLuhan die analoge Presse einmal nannte, hat ihr Glanzlicht verloren. Sie verkörpert nicht mehr das starke Rückgrat einer wachen Gesellschaft. Die elektronischen Medien wie Funk und Fernsehen haben ebenfalls viel von ihren vormaligen Kommunikationsvorteilen aufgrund ihrer größeren Flexibilität eingebüßt. Sie verstehen sich, wenigstens hierzulande, nicht mehr primär als Träger von Information und Aufklärung, sondern sehen sich vorrangig zuständig für Unterhaltung und Zeitvertreib. Smartphone und Tablet beherrschen heute die Szene.

Mit diesem technologischen Umbruch ging ein Zerfall der früher komplexen Öffentlichkeit einher. Digitalisierung und Internet haben inzwischen viele Öffentlichkeiten geschaffen, mit einer Vielfalt und Menge, die kaum noch zu überblicken sind. Die riesige Informationsflut über global auftretende Netzwerkbetreiber wird ständig ergänzt durch neue Portale, Blogs, Apps. Und was heute nicht ist, wird morgen überraschend entstehen. Denn am digitalen Horizont erscheinen bereits die nächsten Errungenschaften der technologischen Revolution, selbstständige Algorithmen, künstliche Intelligenz, arbeitstüchtige Roboter - also autark handelnde Maschinen, die das Leben der Menschen völlig umkrempeln werden, von denen aber niemand weiß, wie genau es aussehen wird. Dabei erlaubt das fast grenzenlos erscheinende Digitaluniversum bereits heute jedem und jeder, sich eine ihm adäquate Öffentlichkeit zu schaffen. Der simple Zugang zu den sozialen Netzwerken ermöglicht auch allen, eine spezifische Öffentlichkeit selbst herzustellen, die sich weltweit verbreiten lässt. Aus diesen neuartigen Konstellationen der Kommunikation haben sich inzwischen Gegenwelten und Parallelgemeinschaften entwickelt. Sie folgen keineswegs nur konsensuellen Zwecken, sondern besitzen nicht selten eigenwilligen, sogar destruktiven Charakter. Davon zeugen jene Filterblasen und Echokammern als Ausdrucksformen und Rückzugsorte gesellschaftlicher wie individueller Separierung: Gleichgesinnte wollen in Informationskokons unbedingt unter sich bleiben. Diese Fragmentierung der Kommunikation bedeutet zweifellos eine Aushöhlung demokratischer Willensbildung. So machen Politik und Politiker jetzt häufig die Erfahrung, wie schwierig es ihnen gelingt, mit ihren Vorstellungen und Konzepten durchzudringen. Die Selbsthilfe in der Twitter-Community wird das offenkundige Manko wohl kaum beheben.

Früher undenkbar Wesentlich gravierender sind jedoch die früher undenkbaren Möglichkeiten der Manipulation und des Missbrauchs, die Digitalisierung und Internet bieten, zweifellos sogar beflügeln. Wenn gegenwärtig der Begriff von "postfaktischen Zeiten", gar von "postfaktischer Demokratie" zum geflügelten Wort aufsteigt, dann werden als Beweise jene Verzerrungen und Verwerfungen angeführt, die sich über die digitalen Medien so leicht generieren lassen: Fake-News und Lügengeschichten, Hasskampagnen und Verschwörungstheorien, Desinformation und Cyberwar, Datenklau und Whistleblowing.

Auch Verselbstständigung und Ausbeutung von Algorithmen durch Bots und Trolle werden als Mittel der Falsifikation eingesetzt, um Meinungsbildung zu erschüttern und umzudeuten. Etwas Rohes und Rasendes sei in die politische Öffentlichkeit eingezogen, es werde schamlos gehasst und gefährliche Gefühle würden frivol artikuliert, so hat der Darmstädter Soziologe Oliver Nachtwey solche Tendenzen beschrieben. Er bezeichnet sie als bedrohliche Prozesse einer "regressiven Entzivilisierung". Die skrupellosen Hackerattacken auf Staatsorgane - den Bundestag traf es mehrfach - wie Wirtschaftsunternehmen, auch auf Politiker und Parteien, wie die Wahlkämpfe in den USA und Frankreich zeigten, lassen jedenfalls einen dramatischen Verlust an zivilisierten Verhaltensstandards erkennen. Offenbar verführen die Heimsuchungen der Digitalisierung bei affektiven Persönlichkeiten zu autoritären Aggressionen.

Als Prototyp eines solchen Politikstils kann durchaus Donald Trump betrachtet werden. Nicht nur inszenierte er in einer abwegigen Manier seinen Präsidentschaftswahlkampf. Als Mann im Weißen Haus versucht er mit dem 140-Zeichen-Modus der Kommunikation, nämlich seinen pausenlosen Tweets, sich ein ihm eigenes Beeinflussungs- und Herrschaftsinstrument zu verschaffen. In seinen digitalen Kurzbotschaften setzt er, seinem Populismus gemäß, eher auf Stimmungen und Emotionen, greift zu falschen Behauptungen und eklatanten Lügen, verdreht Wirklichkeiten und leugnet Fakten. Mit der Monopolisierung der Wahrheit jenseits der Realität in seiner Hand will er die klassische Gewaltenteilung unterlaufen und die demokratischen Institutionen delegitimieren. Trumps Beraterin Kellyanne Conway prägte für diesen Habitus den Begriff der "alternativen Fakten". Wenn jedoch Tatsachen nicht mehr als gegeben akzeptiert würden, haben die dänischen Wissenschaftler Vincent Hendricks und Mads Vestergaard die "Postwahrheitspolitik" analysiert, dann gebe es "für die politische Debatte keine echten Fixpunkte mehr". Es markiert die Erosion der Demokratie von innen her.

Allerdings gerät die demokratische Verfasstheit einer Gesellschaft durch die digitale Dynamik auch von außen zunehmend unter Druck. Der bekannte britische Historiker Timothy Garton Ash, wegen seines engagierten Plädoyers für die "Redefreiheit" in der vernetzten Welt in diesem Jahr mit dem Theodor-Heuss-Preis und dem Aachener Friedenspreis geehrt, bezeichnet die marktbeherrschenden globalen Netzgiganten wie Microsoft, Apple, Google, Facebook, Twitter, Amazon, Youtube als "Supermächte", die mehr Einfluss und Autorität besitzen als viele souveräne Staaten. Diese Internetkonzerne, einerseits beseelt von den Weltbeglückungsfantasien des Silicon Valley, zeigen sich andererseits als profitgeleitete Wirtschaftskonglomerate, die mit Big Data, also der Sammlung und Speicherung vielfältiger persönlicher Profile der Nutzer, ihre ökonomischen Interessen vorantreiben. Ash konstatiert hier einen "Kampf um die Wortmacht", was letztendlich die Kontrolle über Wissen und Informationen meint. Dabei gerieren sich die Internetbetreiber recht breitbeinig wie Körperschaften des eigenen Rechts, bleiben doch ihre Geschäftsmethoden und Arbeitsregelungen intransparent und vieldeutig. Ihre Wertestandards erschließen sich von außen nicht. Ersichtlich ist nur, dass diese Unternehmen an immer mehr Klicks ihrer Nutzer interessiert sind, denn mehr Wissen bedeutete mehr Macht und Gewinn. Dies erklärt auch, dass die Bereitschaft zur Entfernung oder Löschung zweifelhafter, gar strafbarer Inhalte im Netz nicht besonders ausgeprägt ist.

Grenzen überschritten Allerdings belegen wiederholt verhängte Strafzahlungen wegen dubioser Praktiken, wie jüngst erst die Rekordsumme von 2,4 Milliarden Euro gegenüber Google durch die EU-Kommission, dass sich die Internetgiganten nicht selten an den Grenzen der Legitimität bewegen, diese gar zuweilen überschreiten. "Macht wird nicht missbraucht, sie wird gebraucht", formuliert der Soziologe und Aktivist Harald Welzer. "Die Digitalisierung hat neue Marktchancen eröffnet und neue Machtverhältnisse geschaffen."

Bleiben daher nur noch die Wege der Judikation? Selbst ein Skeptiker wie Garton Ash spricht sich deutlich gegen Gesetze und Maßnahmen von Regierungen aus, die die Rede- und Meinungsfreiheit im Internet einschränken. Stattdessen sollten "gemeinsame Normen und Praktiken für den optimalen Gebrauch dieser essentiellen Freiheit entwickelt" werden. Tatsächlich bietet sich das Modell einer freiwilligen Selbstkontrolle an, das alle Beteiligten an einen Tisch bringt. Was für den Jugendschutz mit der deutschen Filmbranche gelungen ist, warum sollte dies für den Grundrechtsschutz in den sozialen Netzwerken nicht möglich sein? Auch wenn es schwierig wird, sollte es eines ernsthaften Versuchs wert sein, bevor die Innovationsgeschwindigkeit der Netzkommunikation sich mit einer schleichenden Demokratiegefährdung verbindet. Denn ansonsten bliebe nur das traurige Ende der Parabel von Hase und Igel.

Der Autor lebt und arbeitet als

freier Journalist in Berlin.