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Mindestlohn : Vom Wert der Arbeit

Lohndumping wird zwar erschwert, Armut aber auch nicht zwingend verhindert

24.07.2017
2023-08-30T12:32:24.7200Z
3 Min

Brigitte Pothmer hatte es anlässlich der historischen Stunde einmal genau nachgerechnet. Seit ihrem Einzug in den Bundestag 2005 hatte die Arbeitsmarktexpertin der Grünen 22 Reden zum Thema Mindestlohn gehalten - meist in Debatten über Oppositionsanträge, vornehmlich der Linksfraktion, die eine Einführung desselben verlangten. Das Pro und Contra eines gesetzlichen, bundesweit geltenden Mindestlohns avancierte zu einem der am längsten und heftigsten geführten sozialpolitischen Debatten der vergangenen Jahre.

Kein Wunder, dass die Abgeordneten des Bundestages im Juli 2014, als es dann endlich soweit war, das entsprechende Gesetzeswerk der Großen Koalition mit Superlativen umschrieben. Als "Meilenstein in der Arbeits- und Sozialpolitik der Bundesrepublik" feierte Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) die Verabschiedung des Tarifautonomiestärkungsgesetzes. Das Urteil der Opposition fiel freilich nüchterner aus: "Wir haben lange dafür gekämpft, dass Wettbewerb nicht über Lohndumping ausgetragen wird, schade ist nur, dass Ihr Gesetz der historischen Dimension nicht gerecht wird", kritisierte Brigitte Pothmer in der abschließenden Debatte. Klaus Ernst von den Linken bezeichnete es gar als "grottenschlecht".

Ausnahmen Der Grund: Das Mindestlohngesetz lässt einige Ausnahmen zu: So sind Auszubildende vom Mindestlohn ausgenommen, ebenso wie Jugendliche unter 18 Jahren ohne Berufsausbildung. Sie gelten nach dem Jugendarbeitsschutzgesetz nicht als Arbeitnehmer und sollen einer Ausbildung den Vorrang vor einem besser bezahlten Aushilfsjob geben, so die Begründung aus dem Arbeitsministerium.

Für Praktikanten, die ein Pflicht-Praktikum im Rahmen von Schule, Ausbildung und Studium oder ein Orientierungspraktikum von maximal sechs Wochen für die Wahl einer Ausbildung machen, gilt der Mindestlohn auch nicht. Gleiches gilt für freiwillige Praktika von bis zu sechs Wochen begleitend zu einer Berufs- oder Hochschulausbildung. Auch Langzeitarbeitslose fallen unter die Ausnahmeregelungen. Sie können in den ersten sechs Monaten nach Wiedereinstieg in den Beruf unterhalb des Mindestlohns bezahlt werden. Eine Evaluation dieser Regelung durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigte Anfang 2017 jedoch, dass sie nur selten genutzt wird und keine nachweisbare Wirkung auf die Beschäftigung Langzeitarbeitsloser entfaltet. Sie sind noch immer die Sorgenkinder des Arbeitsmarktes.

Von der Einführung des Mindestlohns profitiert haben ab Januar 2015 dennoch sehr viele Beschäftigte: Mehr als vier Millionen, die zuvor einen deutlich geringeren Stundenlohn bekamen, erhielten nun 8,50 Euro pro Stunde. Und zu einem massenhaften Jobverlust führte der Mindestlohn auch nicht. Mit diesem Szenario hatten seine Kritiker, meist Ökonomen, stets argumentiert, um ihn zu verhindern. Zwar hat sich die Zahl der Minijobber deutlich reduziert, aber die Hälfte der ehemaligen Minijobs wurde in sozialversicherungspflichtige Arbeitsstellen umgewandelt. Mit 32 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten steht Deutschlands Arbeitsmarktstatistik jedenfalls so gut da wie lange nicht.

Kein Allheilmittel Ist also alles prima? Noch dazu, nachdem der Mindestlohn durch die dafür eingesetzte Kommission im Januar 2017 auf 8,84 Euro pro Stunde erhöht wurde?

Die Debatte über den fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung Ende Juni bestätigte, was auch zahlreiche Studien bereits herausfanden: Der Mindestlohn löst das Problem der Armut in Deutschland nicht. Weder sank die Zahl der armutsgefährdeten Personen. Sie liegt seit Jahren konstant bei rund 15 Prozent. Noch verringerte sich die Zahl der "Aufstocker", also Menschen, die zusätzlich zum Lohn Hartz-IV-Leistungen beziehen, kaum. Sie liegt bei rund einer Million. "Es war richtig den Mindestlohn einzuführen. Aber der Mindestlohn ist kein guter Lohn. Er reicht nicht, über ein ganzes Leben betrachtet, für ein gutes Einkommen und eine gute Rente", sagte Andrea Nahles in der Debatte. Die Frage nach den Ursachen, warum trotz der guten Wirtschaftslage offenbar ein erheblicher Teil der Beschäftigten aus der Armut nicht herausfindet, wird die Politiker also noch beschäftigen. Eine erste Antwort, wohin dies gehen könnte, lieferte Nahles schon, indem sie einen "Pakt für anständige Löhne" forderte.

Die Linke forderte in einigen Anträgen dieser Legislaturperiode statt dessen die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro pro Stunde. Das ist zwar nicht mehr Sache des Bundestages, sondern der Mindestlohnkommission. Doch würde Brigitte Pothmer in der nächsten Wahlperiode ihre Arbeit als Abgeordnete fortsetzen, sie würde vermutlich auch noch die 30. Rede zum Mindestlohn halten.