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Untersuchungsausschüsse : Wie in der Arena

Zwischen Wahrheitssuche und Abrechnung mit dem politischen Gegner

24.07.2017
2023-08-30T12:32:25.7200Z
5 Min

Nach knapp anderthalb Stunden äußerte der Vorsitzende einen zaghaften Wunsch. Der Zeuge möge doch "langsam zum Schluss" kommen, bat Hans-Peter Uhl (CSU). Weitere zweieinhalb Stunden später drehte Uhl dem Zeugen das Mikrofon ab. Doch Otto Schily (SPD) blieb unbeeindruckt. "Von mir aus tagen Sie zwanzig Stunden", schnarrte der damals noch amtierende Bundesinnenminister. "Ich werde von meinem Recht als Zeuge Gebrauch machen, ausführlich die Sachlage darzustellen. Sie müssen sich schon damit abfinden."

Schilys Auftritt im Juli 2005 vor dem "Visa-Untersuchungsausschuss", der auf Wunsch von Union und FDP den Vorwurf klären sollte, die rot-grüne Bundesregierung habe durch eine nachlässige Vergabepraxis an der Botschaft in Kiew ein Einfallstor für Schleuser, Zwangsprostituierte und Schwarzarbeiter aus der Ukraine geschaffen, zählt zu den denkwürdigen Stunden der Parlamentsgeschichte. Die Geschäftsordnung räumt Zeugen in Untersuchungsausschüssen die Möglichkeit ein, vor Beginn der Befragung ihre Sicht auf den Sachverhalt im Zusammenhang darzustellen. Schily machte davon reichlich Gebrauch und verlas mit unermüdlichem Eifer Aktenvermerke, Erlässe, Protokolle. Als er nach fünf Stunden und 16 Minuten endete, hatte er einen Rekord aufgestellt: Bis heute hat kein Zeuge in einem Ausschuss länger am Stück das Wort geführt.

Schily machte auch keinen Hehl daraus, dass seine Endlostirade ein Racheakt war. Einen Monat zuvor hatte die rot-grüne Mehrheit im Ausschuss beschlossen, mit Blick auf die unerwartet angesetzte Bundestagsneuwahl die Zeugenvernehmungen vorzeitig einzustellen, um vor Ende der verkürzten Legislaturperiode mit dem Abschlussbericht fertig zu werden. Union und FDP hatten dagegen erfolgreich in Karlsruhe geklagt. Selbst schuld, bekamen sie jetzt von Schily zu hören: "Schließlich haben Sie die Beweisaufnahme fortgesetzt."

Schwert der Opposition Nach den Worten des Bundesverfassungsgerichts dient ein Untersuchungsausschuss dem Zweck, "Sachverhalte, deren Aufklärung im öffentlichen Interesse liegt, zu untersuchen und dem Bundestag darüber Bericht zu erstatten". In der schnöden Praxis gerät das "öffentliche Interesse" jedoch öfter im Machtkampf der Fraktionen und Parteien unter die Räder. Nicht von ungefähr vergleicht eine gängige Metapher den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss mit einer Waffe. Die Rede ist vom "schärfsten Schwert der Opposition".

Laut Artikel 44 Grundgesetz ist das parlamentarische Ermittlungsverfahren ein Privileg der Minderheit. Der Bundestag muss einen Ausschuss einsetzen, wenn 25 Prozent der Abgeordneten dies wünschen. Da in der zu Ende gehenden Wahlperiode Linke und Grüne gegen das Übergewicht der Großen Koalition nur 23 Prozent der Mandate auf die Waage brachten, wurde das Quorum befristet modifiziert. In den vergangenen vier Jahren genügten deshalb die Stimmen von 120 Parlamentariern.

Bislang hat der Bundestag 58 Ermittlungsverfahren erlebt. In 14 Fällen machte der Verteidigungsausschuss von seinem Privileg Gebrauch, sich bei außergewöhnlichen Ereignissen als Untersuchungsausschuss zu konstituieren. So unter anderem 1998 zum Thema rechtsextremistischer "Vorkommnisse" in der Bundeswehr.

Die meisten parlamentarischen Ermittlungen, insgesamt neun, spielten sich gleich in der ersten Legislaturperiode bis 1953 ab. Im folgenden vier Jahren waren es sieben. Fünf Untersuchungen, wie in der zu Ende gehenden Wahlperiode, hat es zuletzt während der ersten vollen Amtszeit Helmut Kohls zwischen 1983 und 1987 gegeben. Ganz ohne aufregende Ereignisse, die einer eingehenden Betrachtung wert gewesen wären, verliefen offenbar die Jahre 1957 bis 1961, als die Union mit absoluter Mehrheit regierte.

Kaum neue Erkenntnisse Im Durchschnitt anderthalb Jahre tagt ein Untersuchungsausschuss. Es gibt Ausreißer; in bislang neun Fällen nahm die Beweiserhebung deutlich mehr als zwei Jahre in Anspruch, so bei der Untersuchung der Flick-Affäre, bei den Ermittlungen zum wirtschaftlichen Schattenreich des DDR-Devisenbeschaffers Alexander Schalck-Golodkowski, im BND-Ausschuss der vorvergangenen Wahlperiode und im jetzt abgeschlossenen NSA-Verfahren.

Unter den behandelten Themen waren schon in grauer bundesrepublikanischer Vorzeit solche, die uns noch immer vertraut vorkommen. So befasste sich 1963 ein Ausschuss mit dem Vorwurf massenhafter Ausspähung von Bürgern durch den Verfassungsschutz in Kooperation mit britischen und amerikanischen Geheimdiensten. Der Fall inspirierte den damalige Innenminister Hermann Höcherl (CSU) zu der viel zitierten Äußerung, ein Beamter könne "nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen". Zu Beginn der 1950er Jahre waren die Beschäftigung ehemaliger NS-Funktionäre im Auswärtigen Amt sowie die Frage, ob bei der Entscheidung für die Bundeshauptstadt Bonn Schmiergeld geflossen war, Themen von Untersuchungsausschüssen.

Dabei lässt sich beobachten, dass der Anstoß zu einer Ermittlung selten aus dem Bundestag selbst, sondern viel häufiger von außen kommt, wenn Medienberichte die Öffentlichkeit so sehr in Atem halten, dass sie dann auch parlamentarische Wellen schlagen. Ein weiterer Erfahrungssatz lautet, dass die aufwendige Beweiserhebung der Abgeordneten allenfalls im Detail, kaum indes in der Substanz Erkenntnisse zutage fördert, die der Recherchefleiß investigativer Journalisten nicht zuvor bereits an die Öffentlichkeit gezerrt hätte.

Exemplarisch dafür steht der "Spendenausschuss", der von Ende 1999 bis 2002 der Frage nachgehen sollte, "ob Parteispenden Einfluss auf politische Entscheidungen der Regierung Kohl hatten". Bevor er seine Arbeit aufnahm, wusste das Publikum bereits von der ominösen Übergabe eines Geldkoffers an CDU-Schatzmeister Walther Leisler Kiep, der Offenbarung des ehemaligen CDU-Generalsekretärs Heiner Geißler, dass es unter dem Vorsitzenden Kohl "schwarze Kassen" gegeben hatte sowie Kohls eigenem Fernsehgeständnis, von anonymen Spendern bis zu 2,1 Millionen D-Mark entgegengenommen zu haben. Das war, ergänzt durch die Befunde von Wirtschaftsprüfern, die im Auftrag der CDU selbst ermittelt hatten, im Wesentlichen auch noch der Sachstand, als der Ausschuss die Akten schloss. Den Altkanzler anhand substanzieller neuer Erkenntnisse der persönlichen Bestechlichkeit zu überführen, war nicht gelungen.

Ein eigenes Gesetz Zu den Konsequenzen des Spendenausschusses zählte abgesehen von einer weiteren Verschärfung des Parteiengesetzes, dass der Bundestag 2001 das parlamentarische Ermittlungsverfahren erstmals in einem eigenen Gesetz regulierte und dabei auch die Sanktionsmöglichkeiten gegen renitente Zeugen verschärfte. Drohten zuvor nicht mehr als 1.000 D-Mark Zwangsgeld, so liegt die Obergrenze heute bei 10.000 Euro. Nun offenbarte sich freilich gerade in den Ermittlungen wegen der schwarzen Kassen der CDU das Dilemma, mit dem das Institut des Untersuchungsausschusses in der Regel behaftet ist, dass nämlich hier die beiden gegenläufigen Anliegen der Wahrheitssuche und der Abrechnung mit dem politischen Gegner unauflöslich verquickt sind.

Bemerkenswert war schon, dass der Einsetzungsantrag nicht von der Bundestagsminderheit kam, sondern von der damaligen rot-grünen Mehrheit. Gewiss getrieben von der Sorge um die Integrität der Demokratie, ein wenig wohl aber auch von der Aussicht, die Vorgängerregierung moralisch zu diskreditieren. Die Union konterte, indem sie den Untersuchungsauftrag auf mögliche Spendenverfehlungen der SPD ausdehnen ließ. Nach jeder Sitzung waren draußen vor den Kameras Berichte von Obleuten zu hören, die offenbar Gegensätzliches erlebt hatten. Wieder einmal sei das Kartenhaus rot-grüner Anschuldigungen zusammengebrochen, lautete die eine Version. Wieder einmal sei die Aufklärung an einem mafiösen Schweigekartell gescheitert, die andere.

Der Ausschuss als Arena: Zumal die Auftritte von Alpha-Zeugen, die die Abgeordneten gerne belehren, dass ihr Ermittlungseifer mit übergeordneten Belangen kollidiere, geraten oft zu großem Theater. Im "Lügenausschuss" etwa, der klären sollte, ob die rot-grüne Koalition sich den Wahlsieg 2002 mit geschönten Angaben über die Lage der öffentlichen Kassen erschlichen hatte, berief sich Hans Eichel (SPD) auf seine Verantwortung als Finanzminister. Selbst wenn es Hinweise auf eine weniger glanzvolle Entwicklung gegeben hätte, hätte er darüber nicht reden dürfen. Er hätte sonst die "Märkte" irritiert.

Der Autor hat für "Das Parlament" aus dem NSA-Untersuchungs- ausschuss berichtet.