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spanien : Auf die Spitze getrieben

Senat in Madrid billigt Entmachtung der katalanischen Separatisten. Die erklären die Unabhängigkeit vom Gesamtstaat

30.10.2017
2023-08-30T12:32:29.7200Z
6 Min

Im Konflikt zwischen den katalanischen Separatisten und der spanischen Zentralregierung stehen die Zeichen mehr denn je auf Konfrontation: Das katalanische Parlament stimmte am Freitag für die Unabhängigkeit von Spanien. In Barcelona votierten 70 Abgeordnete für die Konstituierung "einer katalanischen Republik als unabhängigen und souveränen Staat", ohne eine Frist für die Ausrufung festzulegen. Wenig später erteilte der Senat in Madrid Ministerpräsident Mariano Rajoy die Erlaubnis für die Zwangsverwaltung Kataloniens.

Nach der Abstimmung im katalanischen Parlament brach im Saal und vor dem Gebäude Jubel aus. Die Abgeordneten sangen die katalanische Hymne, viele von ihnen recken die linke Faust in die Höhe. Auch auf den Straßen Barcelonas jubelten Anhänger der Unabhängigkeit. Neben den 70 Ja-Stimmen gab es zehn Nein-Stimmen und zwei blanko abgegebene Stimmzettel. Vor der Abstimmung hatten die Parlamentarier der spanischen Konservativen, der Sozialisten und Liberalen (Ciudadanos) den Saal der 135 Sitze umfassenden Regionalvertretung verlassen. Sie hinterließen als Zeichen der Einheit ihres Landes auf ihren Sitzbänken sowohl spanische als auch katalanische Flaggen. Abgeordnete, die mit Ja gestimmt haben, könnten vor Gericht gestellt werden und müssten bei einer Verurteilung mit Haftstrafen von bis zu 30 Jahren rechnen.

Rajoy rief nach dem Votum zur Ruhe auf. Der Rechtsstaat werde die Achtung von Recht und Gesetz in Katalonien wiederherstellen. Im spanischen Senat hatte Rajoy am Vormittag dafür plädiert, erstmals den Artikel 155 der Verfassung zu aktivieren und die direkte Kontrolle in Katalonien zu übernehmen. "Wir stehen einer Herausforderung gegenüber, die beispiellos ist in unserer jüngeren Geschichte", sagte Rajoy.

Zu den Maßnahmen, die das Kabinett beschließen könnte, gehören die Entlassung der katalanischen Regierung sowie die Übernahme der direkten Kontrolle über die Polizei der autonomen Region. Die Separatisten in Katalonien riefen Bediensteten der dortigen Verwaltung dazu auf, den Anordnungen aus Madrid nicht Folge zu leisten und mit "friedlichem Widerstand" zu reagieren.

EU-Ratspräsident Donald Tusk erklärte nach dem Votum in Barcelona, für die EU ändere sich nichts. Die EU werde weiterhin ausschließlich mit Spanien sprechen. Die katalanische Regierung von Carles Puigdemont hatte am Donnerstag die Idee verworfen, Neuwahlen auszurufen und so womöglich der Entmachtung durch die spanische Zentralregierung zu entgehen. An dem siegreichen Referendum über die Unabhängigkeit der Region hatten sich am 1. Oktober 43 Prozent der Katalanen beteiligt.

Ein Wendepunkt in dem seit Jahren schwelenden Konflikt hatte sich am 1. Oktober abgezeichnet. Damals hatte die Zentralregierung in einer ziemlich verzweifelten Aktion versucht, das katalanische Unabhängigkeitsreferendum zu verhindern, und war dabei unnötig brutal vorgegangen. Die Regionalregierung unter Puigdemont spricht mittlerweile von mehr als tausend Verletzten: offensichtlich aufgeblasene Zahlen, die nur überzeugte Separatisten für glaubwürdig halten.

Es gibt jetzt wüste Szenarien: Was wäre, wenn in Katalonien ernsthafte Unruhen ausbrächen, Autonome aus dem Rest Europas angereist kämen, weil sie "die Katalanen" in ihrem "Freiheitskampf" unterstützen wollen? Das ist der Albtraum von Diplomaten: dass sich ein Konflikt, der wie eine schlechte Komödie begann, zum gewalttätigen Drama mitten in der EU entwickelt. Dass es so weit kommt, kann man sich mittlerweile vorstellen. Die spanische Regierung hat das Recht auf ihrer Seite. Sie weiß mit ihrem Recht aber nicht immer gut umzugehen, und die katalanische Regionalregierung ist gerade deswegen gefährlich, weil sie sich schon lange außerhalb des Rechts gestellt hat. Es sieht nicht gut aus für Katalonien und für ganz Spanien.

Seit zwei Jahren tun die katalanischen Separatisten, was ihnen passt. Am 9. November 2015 erklärte die separatistische Mehrheit im damals frisch gewählten Regionalparlament feierlich ihren Willen, Katalonien in die staatliche Unabhängigkeit zu führen. Das spanische Verfassungsgericht kassierte diese Erklärung gleich wieder, weil sie Artikel 2 der spanischen Verfassung zuwiderläuft, der die Unauflöslichkeit der spanischen Nation festschreibt. Die Separatisten kümmerte das nicht. Sie arbeiteten fortan beharrlich auf den Moment hin, an dem sie die katalanische Republik ausrufen würden. Wie hatte es so weit kommen können?

In der Rückschau lässt sich das leichter erklären. Kaum jemand ahnte, was heute offensichtlich ist: wie ernst es den Separatisten war und ist. Ihr Projekt schien viel zu abwegig zu sein, um sich seriös damit zu beschäftigen. Eine verhältnismäßig reiche Region der Europäischen Union wollte sich von ihrem Heimatstaat ablösen, so etwas hatte man schon aus anderen Ecken des Kontinents gehört. Es musste wohl ums Geld gehen, alle anderen Gründe erwiesen sich bei näherem Hinsehen als haltlos. Die Katalanen sind kein unterdrücktes Volk, sie leben so frei und gut wie alle anderen Spanier. Auch der katalanischen Sprache wird keine Gewalt angetan, wenn, dann haben es die spanischen Muttersprachler im Katalonien nicht immer ganz leicht. Das separatistische Projekt will die Machtverhältnisse verschieben. So muss auch Mariano Rajoy gedacht haben. Er ließ die Separatisten zunächst gewähren. Ihm kam nicht in den Sinn, den Artikel 155 der spanischen Verfassung in Anschlag zu bringen, das Gegenstück zum Artikel 37 des deutschen Grundgesetzes, der es der Regierung erlaubt, eine rebellische Region zum Einhalten der Gesetze zu zwingen. Zudem hatte Rajoy vor zwei Jahren andere Sorgen. Für den 20. Dezember 2015 standen Neuwahlen zum spanischen Parlament an, die Rajoys konservative Volkspartei (PP) verlustreich gewann. Danach zog sich die Suche nach einer Regierungsmehrheit monatelang, am Ende ergebnislos, hin. Erst nach Neuwahlen im Juni 2016 und weiteren quälenden Verhandlungen wurde Rajoy am 29. Oktober wieder zum Ministerpräsidenten gewählt. Fast ein Jahr lang war Spanien so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass es Katalonien aus dem Blick verloren hatte.

Die katalanischen Separatisten aber verloren ihr Ziel niemals aus den Augen. Sie entwarfen Gesetze für einen Übergang in die Unabhängigkeit und bereiteten schließlich ein Referendum für den 1. Oktober 2017 vor. Die Regierung in Madrid sah sich das ungläubig an, war sich aber gewiss, das Theater schon rechtzeitig stoppen zu können. Dafür gab es schließlich Gerichte und notfalls den ganzen Machtapparat des spanischen Staates. Rajoy unterschätzte seine Gegner, so wie sie viele unterschätzten. Bis zum 1. Oktober zeigte die spanische Börse niemals Anzeichen von Nervosität. Danach aber schon.

Heute unterschätzt die Separatisten niemand mehr. Im Laufe des Monats verlegten mehr als 1.500 katalanische Unternehmen ihren Firmensitz in andere spanische Regionen, als erste die beiden großen Banken Sabadell und Caixabank und vier weitere der bis dahin sieben katalanischen Gesellschaften, die im Ibex35 notieren. Und die Rajoy-Regierung begann endlich doch, die Mechanismen des Verfassungsartikels 155 in Gang zu setzen. Es blieb ihr nichts anderes mehr übrig.

Die Puigdemont-Regierung in Barcelona musste wissen, was auf sie zukommt. Sie hat viel erreicht in diesen Monaten, vor allem hat sie erreicht, dass die Welt jetzt weiß, dass es einen "katalanischen Konflikt" gibt. Den hat sie selbst geschürt mit ihrer ständigen Missachtung des Rechts, und dass sie dafür jetzt einen Preis zu zahlen hat - Zwangsverwaltung, wahrscheinlich Absetzung und möglicherweise Verhaftung - kann sie nicht überraschen. Das eigentliche Drama ihrer Politik aber ist, dass sie die katalanische Gesellschaft in brennende Befürworter und klare Gegner der Unabhängigkeit gespalten hat.

Weiterhin Hoffnung Wie weit die proseparatistischen Teile der Gesellschaft zu gehen bereit sind, um die anstehende Zwangsverwaltung zu unterlaufen, wird sich zeigen. Die Unabhängigkeitsbefürworter sind stolz darauf, bisher meist friedlich agiert zu haben. Als Puigdemont am vergangenen Donnerstag die letzte Tür zu einem einvernehmlichen Ausweg aus der Krise zuschlug, indem er Neuwahlen zum katalanischen Parlament verweigerte, sprach er von einer "Verpflichtung zum Frieden und zum Bürgersinn". Die Hoffnung auf den Sieg hat Puigdemont nicht aufgegeben. Mit friedlichen Mitteln aber wird er ihn, anders als er glaubt, nicht erringen können. Das macht diesen Moment so gefährlich.

Der Autor ist freier Korrespondent in Madrid.