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konstituierung : Die neue Sachlichkeit

Mit viel Schwung starten die Abgeordneten in die 19. Wahlperiode. Schäuble zum Präsidenten gewählt

30.10.2017
2023-08-30T12:32:29.7200Z
8 Min

Die Neuen sind da. Vereinzelt tröpfeln AfD-Abgeordnete an diesem Dienstagmorgen in das Jakob-Kaiser-Haus neben dem Reichstagsgebäude auf der Suche nach einem Konferenzsaal, in dem die 92 Köpfe starke Fraktion kurz vor der konstituierenden Sitzung des Parlaments ihre Strategie abstecken und kurzfristig einzubringende Anträge beraten will. Der Pförtner ist freundlich und nachsichtig, gewissenhaft schlägt er im frisch gedruckten Abgeordnetenhandbuch nach, vergleicht Ausweise und Gesichter, zeigt die Richtung an, in die es nun gehen soll: Immer gen Osten, den langen Flur entlang, dann hoch mit dem Aufzug und links halten. Die Neuen sind dankbar für die Hilfestellung, die Stimmung scheint gehoben.

Der Pförtner, der von seinem Arbeitsplatz aus direkte Sicht auf den Osteingang des Reichstags hat, kennt lange noch nicht alle der 289 neuen Gesichter, die künftig im dicht besetzten Plenarsaal neben jenen Abgeordneten Platz nehmen werden, die schon länger mit dabei sind. So ist die FDP nach einer unfreiwilligen Auszeit von vier Jahren auch wieder da, für viele Abgeordnete der Liberalen ein sehr emotionaler Moment. Daneben sind aber auch alle anderen Fraktionen mit neuen Parlamentariern vertreten, rund 40 Prozent der Abgeordneten sind neu gewählt, mit der AfD und der FDP kommen zwei neue Fraktionen hinzu, insgesamt sind es nun sechs: Das neue Haus ist erkennbar bunter und mit 709 Abgeordneten vor allem größer als das alte.

Die Spannung steigt Das öffentliche Interesse ist an diesem Tag stark auf die AfD fokussiert. Manche erwarten einen Eklat, andere eher unterschwellige Provokationen. Auf den Fluren haben sich schon früh am Morgen kleine Grüppchen gebildet, es wird getuschelt und telefoniert, Kameraleute rennen herum auf dem Weg zu einem schnellen Interview. Neugier und Nervosität machen sich breit, die Spannung steigt so kurz vor der ersten Sitzung des neu gewählten Parlaments. Wird die AfD die Versammlung durch irgendwelche Geschäftsordnungsanträge torpedieren?

Gerold Otten schaut sich unsicher um. Der Oberst der Reserve ist AfD-Abgeordneter aus Bayern und erstmals im Jakob-Kaiser-Haus, dem riesigen Verwaltungsgebäude gleich neben dem Reichstag. "Das ist heute ein historischer Tag, für mich und für die Republik", verkündet er gerührt, während sein Blick staunend durch den weiten Bau wandert. Nein, sagt er, seine Partei sei nicht hier, um Aufruhr zu verbreiten, die AfD wolle mit Sachpolitik überzeugen. Neben der Einwanderungsproblematik sei ihm persönlich auch die Sozialpolitik wichtig: "Das erwarten die Leute auch von uns."

Draußen hat ein Nieselregen eingesetzt, vor den Absperrgittern am Friedrich-Ebert-Platz stehen nur wenige Leute herum. Die Polizisten, die den schmalen Durchgang bewachen, haben Verstärkung bekommen und wirken wie immer gelassen. Schwere Limousinen fahren vor und Taxen, auf dem Platz stehen bunte Hütchen, um den Chauffeuren den Weg zu weisen. Für die Leute am Einlass ist heute Großkampftag, "interessant" findet das einer, guckt dabei aber ganz anders. Dauernd kommen elegant gekleidete Frauen und Männer herein, drinnen im Altbau hat sich um die Garderobe bereits eine Traube gebildet, Journalisten mit bunten Plastikkarten stehen suchend herum und verkabelte Personenschützer im Anzug.

Die Sitzung soll um 11 Uhr beginnen, und schon eine halbe Stunde vorher ist das Gedränge unten im Plenarsaal und oben auf den Tribünen enorm, es ist stickig im Altbau, durch die Gänge wabert der intensive Geruch diverser Parfums. Die Eröffnung des 19. Bundestages ist penibel durchgeplant von einer Verwaltung, die das nicht zum ersten Mal macht. Zahlreiche hochrangige Gäste werden erwartet, ehemalige Präsidenten und Vizepräsidenten des Hauses und Würdenträger, Hunderte Besucher müssen dirigiert, platziert und betreut werden. Für Präsidenten und ihre Begleitung steht ein Verfügungsraum bereit, mit Imbiss.

Um 10.54 Uhr, genau nach Plan, erscheint Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf der Ehrentribüne, Ordner schieben ihm eine Gasse frei. Die TV-Kameras, die auf der benachbarten Pressetribüne in langer Reihe stehen, ficht das nicht an, sie schwenken gar nicht erst um und scheinen nur ein Ziel zu kennen: Die AfD auf der gegenüber liegenden Seite.

Mit einer umstrittenen Änderung der Geschäftsordnung hat der alte Bundestag bewirkt, dass die Eröffnungsrede im neuen Bundestag nicht von einem AfD-Abgeordneten gehalten werden kann. Der neuen Regelung zufolge übernimmt der Abgeordnete mit der längsten Zugehörigkeit zum Parlament die Rolle des Alterspräsidenten, nicht wie bislang der älteste Abgeordnete. Das wäre Wilhelm von Gottberg (77) gewesen, bis 2011 CDU-Mitglied, langjähriger Vorsitzender der Landsmannschaft Ostpreußen und Gründungsmitglied der AfD in Niedersachsen. Stattdessen darf ein anderer Adeliger die 19. Legislaturperiode eröffnen. Der ehemalige FDP-Vizepräsident Hermann Otto Solms hat den Stab von Wolfgang Schäuble (CDU) übernommen, der zwar rund zwölf Dienstjahre mehr aufzuweisen hat, aber als Bundestagspräsident kandidiert und sich nicht selbst fragen kann, ob er die Wahl annimmt.

Solms, der vor vier Jahren deprimiert den Abzug seiner Fraktion aus dem Bundestag erleben musste, ist sichtlich stolz und bewegt. Sein Auftritt erinnert an die "Rückkehr der Jedi Ritter", die liberale Schwärmerei zu Beginn seiner Rede kommt aber nicht bei allen Kollegen gut an. Solms geht auf die "gefühlte Distanz" zwischen Bürgern und Politik ein und sieht darin die Demokratie insgesamt herausgefordert. Mit Blick auf die AfD merkt er an: "Ich warne davor, Sonderregelungen zu schaffen, auszugrenzen oder gar zu stigmatisieren. Wir alle haben das gleiche Mandat, gleiche Rechte, aber auch gleiche Pflichten."

Neue Fronten Was in den sechs Stunden der ersten Plenarsitzung unter der Kuppel passiert, vermittelt einen guten Eindruck von den künftigen Machtverhältnissen und der neuen Rollenverteilung im Parlament, auch wenn die angestrebte "Jamaika"-Koalition von CDU, CSU, FDP und Grünen vier Wochen nach der Wahl noch im Sondierungsmodus feststeckt. Normalerweise übernimmt der neue Bundestag die alte Geschäftsordnung, diesmal ist das komplizierter, denn vor allem SPD und Linke machen sich für Änderungen stark, die den parlamentarischen Ablauf betreffen. Und so liegen gleich ein Dutzend Anträge oder Änderungsanträge auf dem Tisch. Im Mittelpunkt der Kritik: Die Regierungsbefragung und die Fragestunde, Formate, die als unergiebig und langweilig gelten.

So will die SPD künftig vier Mal im Jahr die Bundeskanzlerin direkt zur Befragung zitieren, eine "Selbstverständlichkeit", wie Carsten Schneider (SPD) findet. Michael Grosse-Brömer (CDU) würde schon über Reformen reden, jedoch dürfe das Fragerecht nicht zum "Kampfinstrument der Opposition" werden. Die Linke will die vier laut Grundgesetz vorgeschriebenen Ausschüsse Auswärtiges, Europa, Verteidigung und Petitionen sofort einsetzen und nicht die Regierungsbildung abwarten und auch nicht einen allgemeinen Hauptausschuss beauftragen wie beim letzten Mal. Jan Korte (Linke) argumentiert: "Die Wähler haben einen Anspruch darauf, dass das Parlament arbeitet." Britta Haßelmann (Grüne) fragt zurück, warum es eigentlich ausgerechnet diese Ausschüsse sein müssten und nicht etwa auch der Geschäftsordnungs- und Immunitätsausschuss.

Die AfD verlangt spezielle Minderheitsrechte und eine Rückkehr zur vorherigen Alterspräsidenten-Regelung. Bernd Baumann (AfD) mutmaßt, seine Partei solle ausgegrenzt werden, dabei habe sich die alte Regelung in 150 Jahren Parlamentsgeschichte bewährt und sei nur einmal von den Nazis 1933 geändert worden. Die Provokation schlägt an, Empörung macht sich breit, der Tag hat seinen "Aufreger". Die Anträge werden mit den Stimmen von Union, FDP und Grünen zur weiteren Beratung in den Ältestenrat überwiesen. "Jamaika" funktioniert also schon.

Ein Antrag der Union (19/1) wird gegen die Stimmen der AfD beschlossen, er sieht die Fortführung der Geschäftsordnung vor, allerdings unter Ausschluss der speziell für 18. Legislatur vereinbarten Minderheitsrechte. Eine Opposition aus SPD (153), AfD (92), Linken (69) und zwei Fraktionslosen käme immerhin auf rund 45 Prozent der Mandate, die "Jamaika"-Koalition würde über rund 55 Prozent der Mandate verfügen, deutlich weniger als die 80 Prozent der alten "Groko".

Als Solms die Wahl des Präsidenten ankündigt, ist es schon nach Mittag. Am Wahlausgang kann kein Zweifel bestehen, Schäuble ist der einzige Kandidat, und die anderen Fraktionen außer der AfD haben Zustimmung signalisiert. Die namentliche Abstimmung zieht sich hin, gut, dass es draußen im Flur Kaffee, Kuchen und belegte Brötchen gibt. Um 13.10 Uhr liegt das Wahlergebnis vor: Für den langjährigen Finanzminister haben 501 Abgeordnete votiert, 173 dagegen bei 30 Enthaltungen. Glanzvoll ist das nicht, aber es reicht allemal. Der dienstälteste Abgeordnete, der nun Präsident ist, nimmt Glückwünsche entgegen und verschwindet allmählich hinter einer bunten Wand von Blumensträußen.

Abgeklärter Auftritt Der Schüler Wolfgang Schäuble war früher Klassenbester, stets ein Stück gescheiter als seine Umgebung, ein Hochbegabter mit politischem Ehrgeiz, jetzt hat er mit 75 Jahren die höchste Stufe seiner Karriereleiter erreicht. Er scheint zufrieden, nickt mit dem Kopf und lächelt. Langsam fährt er im Rollstuhl nach vorne zum Rednerpult, ruckelt sich zurecht und will anfangen, aber er ist gar nicht zu hören. "Mikro!" schreit jemand. "Muss ich selber drücken?" fragt Schäuble in den Plenarsaal zurück, in dem es plötzlich zum ersten Mal an diesem Tag fröhlich zugeht. Schäuble lässt sich nicht irritieren, lacht und verkündet: "Aller Anfang ist schwer, also fangen wir noch einmal von vorne an."

In Schäubles Antrittsrede und bei der anschließenden Wahl der Vizepräsidenten wird deutlich, warum es sinnvoll sein kann, in einer Zeit der Umbrüche einen solchen Mann an die Spitze des Parlamentes zu wählen, der so vieles schon erlebt und ertragen hat. Jetzt, wo er auch das Mikrofon im Griff hat, vermittelt Schäuble die nötige Gelassenheit und Entschlossenheit. Souverän leitet er die Sitzung, als hätte er nie etwas anderes getan. Er wirbt für die parlamentarische Kultur, für die Bereitschaft, mit Anstand zu streiten und Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren, statt sie "als verräterisch oder sonst wie zu denunzieren". Er fügt an: "Prügeln sollten wir uns hier nicht, auch nicht verbal." Sein Credo: "Veränderung war immer."

Es ist spät geworden und die Wahl der Vizepräsidenten zieht sich wie Kaugummi. Überraschungen sind nicht mehr zu erwarten. Dass AfD-Kandidat Albrecht Glaser die nötige Mehrheit verfehlen wird, ist schon länger gewiss, ihm wird wegen seiner islamkritischen Äußerungen die nötige Zustimmung verweigert. Der Kandidat scheitert in drei Wahlgängen, wie einst PDS-Kandidat Lothar Bisky 2005, der damals noch ein viertes Mal ohne Erfolg antrat und seine Kandidatur dann zurückzog, woraufhin Petra Pau gewählt wurde.

Auf Glaser entfallen 115, 123 und 114 Ja-Stimmen, bei zuletzt 545 Gegenstimmen. Schäuble stellt klar, einen weiteren Wahlgang wird es nun nicht geben. Sollte Glaser nochmals antreten wollen, müsste vorher der Ältestenrat Grünes Licht geben. Die anderen fünf Kandidaten werden im ersten Durchgang gewählt: Das beste Ergebnis erzielt Hans-Peter Friedrich (CSU) mit 507 Stimmen, auf Wolfgang Kubicki (FDP) und Claudia Roth (Grüne) entfallen je 489 Stimmen, Pau kommt auf 456 Ja-Stimmen, Thomas Oppermann (SPD) auf 396.

Für den neuen Präsidenten endet um 17.01 Uhr ein sehr langer Plenartag. Nun steht nur noch ein Tagesordnungspunkt auf dem Programm, der auch noch allgemeine Vorfreude auslöst: Feiern und Small Talk auf der Fraktionsebene im Reichstag, wo sich auch die Versorgungslage schlagartig bessert. Es werden Häppchen gereicht zu Sekt, Wein, Bier, O-Saft oder Wasser. Zufrieden mischen sich auch die Vizepräsidenten unters Volk. Friedrich freut sich auf die neue Aufgabe und rechnet nicht mit größeren Problemen. Im Umgang mit der AfD plädiere er für mehr Gelassenheit. Kubicki findet, eigentlich sei alles wie immer, mit einer Ausnahme: "Der Kieler Landtag ist halt kleiner als der Bundestag." Pau verrät, dass sie wieder aufgeregt war vor der Wahl. Ihre goldene Regel für das Präsidium: "Hart in der Sache, aber niemals persönlich verletzend." Oppermann ist froh, den "großkoalitionären Einheitsbrei" hinter sich zu haben. Claudia Roth ist nach etlichen Umarmungen irgendwo abgetaucht und gerade nicht ansprechbar.