Piwik Webtracking Image

GESCHICHTE : Wie wir lernten

Das Ringen um Bildungsgerechtigkeit prägt die schulpolitischen Debatten und Reformen in Deutschland bis heute

04.12.2017
2023-08-30T12:32:30.7200Z
7 Min

In demokratischen Gesellschaften ist die Organisation von Bildung eine hoheitliche Aufgabe des Staates. Dieser muss gewährleisten, dass seine Bürgerinnen und Bürger die für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erforderlichen Haltungen und Kompetenzen erwerben und kontinuierlich weiterentwickeln können. Da das Recht auf Bildung seit 1948 als universelles Menschenrecht verankert ist, muss Politik dafür Sorge tragen, dass das Bildungssystem in seinem Gesamtaufbau und in seinen institutionellen Verzweigungen den Grundsätzen der Gleichbehandlung genügt. Niemand darf aufgrund seiner Herkunft oder anderer Merkmale benachteiligt werden. Insbesondere Kinder und Jugendliche müssen die Chance haben, ihre Persönlichkeit und ihre individuellen Fähigkeiten im schulischen Bildungsprozess zur vollen Entfaltung bringen zu können. Dafür müssen ausgebildete Lehrkräfte verfügbar sein und Schulen grundlegende, für alle zugängliche und alltagstaugliche Lernangebote bereitstellen. Da in Schulen aber auch Leistungen zertifiziert und Berechtigungen für weiterführende Bildungswege und Ausbildungsgänge vergeben werden, bemisst sich die Bildungsgerechtigkeit eines Systems außerdem an der angemessenen Entwicklung der Prüfverfahren und Prüfungszeitpunkte sowie an der Wertigkeit der Anschlüsse. Ein kurzer Rückblick auf die schulpolitischen Kontroversen nach 1945 verdeutlicht, dass die damit verbundenen Sollwerte bildungspolitisch hart umkämpft sind.

Pflicht zur Demokratisierung Schon im August 1945 stellte die sowjetische Besatzungsmacht mit der Einrichtung der "Deutschen Verwaltung für Volksbildung" in ihrem Einflussgebiet die Weichen für einen zentral gesteuerten Umbau der vorgefundenen Bildungsorganisation. Mit dem "Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule" wurden im Juni 1946 die Landes- und Provinzialverwaltungen angewiesen, die dreigliedrige Schulstruktur mit dem Gymnasium an der Spitze aufzulösen und stattdessen ein vom Kindergarten bis zur Hochschule stufenförmig aufeinander abgestimmtes Bildungssystem aufzubauen. Herzstück der Strukturreform war die Verlängerung der gemeinsamen Grundschulzeit. Die Bildungswege sollten sich frühestens nach der achten Klasse verzweigen. Die rigide Trennung von niederen, mittleren und höheren Schulformen, so die Begründung, hätte die Klassengegensätze in der deutschen Gesellschaft verfestigt und das historisch katastrophale Zusammenwirken von Militarismus, Imperialismus und Faschismus begünstigt. In einer "antifaschistisch" orientierten, "demokratischen" Zukunftsgesellschaft sei kein Platz für ein berufsständisch gegliedertes Schulwesen.

Während die Sowjets die Demokratisierung des Bildungssystems als politisch-strategische Aufgabe begriffen, betonten die Westalliierten ihren moralischen Auftrag. Im Vordergrund stand deshalb zunächst die Umerziehung der Deutschen. Erst 1947 verständigte man sich im Alliierten Kontrollrat mit der "Direktive 54" auf die Leitlinien der Strukturreform. Alle Kinder sollten, unabhängig von Herkunft und Besitz, gleiche Bildungsmöglichkeiten in einem integrierten, stufenförmig aufgebauten Gesamtsystem erhalten. Bis zum Ende der Pflichtschulzeit sollte es keine parallel laufenden, getrennten Bildungsgänge unterschiedlicher Wertigkeit mehr geben. Nach den Vorstellungen der Amerikaner sollten zudem die Mitgestaltungsmöglichkeiten der Schulmitglieder ausgebaut und das Schulfach "Politische Bildung" eingeführt werden. Anders als in der sowjetischen Besatzungszone jedoch verschleppten die für die Umsetzung der Kontrollratsdirektive zuständigen Behörden in den westlichen Besatzungszonen das Reformtempo.

Die Vorbehalte gegen die verordnete "äußere" Schulstrukturreform wurden nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 immer lauter - und als deutlich wurde, dass man mit Schulpolitik in den Ländern Wahlen verlieren konnte, blieben die Bemühungen, die Grundschulzeit zu verlängern, stecken. Auch Pädagogen meldeten sich zu Wort und sprachen aus, was die Mehrzahl der Bildungspolitiker ohnehin dachte. Demokratische Gleichheitsforderungen seien im schulischen Bildungsbereich durchaus berechtigt, aber man dürfe die damit verbundenen Teilhabeansprüche nicht durch eine Absenkung und Nivellierung der Leistungsanforderungen erkaufen. Darum sei es klüger, vom äußeren Umbau der Schulorganisation abzusehen und stattdessen die "innere Schulreform" - ohne Mitbestimmungsrechte - voranzutreiben. Da die Westalliierten angesichts des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts nicht bedingungslos an ihren Plänen festhielten, gelang es der jungen Bundesrepublik im Jahr 1955, einen ersten eigenen bildungspolitischen Meilenstein zu setzen. Auf Drängen der Ministerpräsidenten wurde im "Düsseldorfer Abkommen" die Dreigliedrigkeit des Schulsystems bundesweit verbindlich festgeschrieben.

Durchlässigkeit Im "Rahmenplan" des "Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen", der Vorläuferorganisation des 1965 einberufenen "Deutschen Bildungsrats" wurden jedoch schon 1959 erste Vorschläge zur Nachbesserung formuliert. Getragen von der Sorge, dass man beim Wiederaufbau des dreigliedrigen Systems nicht genügend bedacht habe, dass die Qualifikationsanforderungen in allen modernen Gesellschaften sowohl in der Spitze als auch in der Breite kontinuierlich steigen, wurde empfohlen, das gymnasiale Angebot zu verbreitern, die Volksschulen zu stärken und die "Übergangsausgangslese" in der Grundschule "begabungsgerechter" anzulegen.

Letzteres sollte verhindern, dass die Kinder einseitig auf die Aufnahmeprüfung zu den weiterführenden Schulen vorbereitet werden. Diese Anregungen aufgreifend, legte die Kultusministerkonferenz 1963 eine Bedarfsfeststellung für den gesamten Bildungsbereich vor. Die Forderung, größere Haushaltsmittel bereitzustellen, wurde mit dramatischen Bildern verbunden. Der Pädagoge Georg Picht sprach angesichts des Lehrkräftemangels, der viel zu geringen Abiturientenquote und des ausgeprägten Stadt-Land-Gefälles von einer drohenden Bildungskatastrophe. Den politisch Handelnden war klar, dass eine "Anhebung des gesamten Ausbildungsniveaus der Jugendlichen", wie es in der "Berliner Erklärung" der Kultusministerkonferenz von 1964 hieß, unerlässlich sei, um Modernitätsrückstände zu beseitigen. Dazu sollte die Durchlässigkeit zwischen den weiterführenden Schulformen verstärkt und das Angebot an höheren Schulen ausgeweitet werden.

Zusätzlichen Zündstoff erhielt die Diskussion durch Studien, in denen gezeigt werden konnte, dass die Chance, ein Gymnasium zu besuchen, nicht in erster Linie von der Intelligenz oder der Leistungsfähigkeit eines Kindes abhängt, sondern vom sozialen Status seines Elternhauses. Der Soziologe und spätere FDP-Politiker Ralf Dahrendorf monierte, dass das "Bürgerrecht" auf Bildung in der Bundesrepublik noch nicht verwirklicht sei. Solange gleichwertige Bildungsangebote nicht für alle verfügbar wären, die Zugänge zur höheren Bildung eng begrenzt, die Verteilung auf die weiterführenden Schulen herkunftsabhängig und die Bildungskarrieren schon im Alter von zehn Jahren vorentschieden seien, bliebe Chancengerechtigkeit ein demokratiepolitisch uneingelöstes Versprechen.

Neue Institutionen Die Zeit für eine tiefergreifende Bildungsreform schien mit dem Regierungsantritt der sozialliberalen Koalition im Jahr 1969 gekommen. Damit der Bund mehr Möglichkeiten erhielt, gemeinsam mit den Ländern Bildungsplanung zu betreiben, wurde das Grundgesetz geändert. Neu eingerichtet wurden das "Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft" sowie die "Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung" (BLK). Letztere hatte den Auftrag, auf der Grundlage des "Strukturplans", den der Bildungsrat 1970 vorgelegt hatte, einen langfristigen "Bildungsgesamtplan" vorzulegen. Der Abbau herkunftsbedingter Disparitäten und die Ausweitung der Bildungsbeteiligung sollten - entgegen der im "Hamburger Abkommen" von 1964 bekräftigten Dreiteilung - über ein Schulstufenmodell realisiert werden. Geplant war, dass die Schülerinnen und Schüler am Ende ihrer Pflichtschulzeit, in der nicht mehr nach Schulformen differenzierten Sekundarstufe I, ein erstes Abgangszeugnis erhalten, wobei der Abschluss nicht mehr die Bezeichnung eines Bildungsgangs führt, sondern als Abitur I ausgewiesen ist. Mehr jedoch als die versuchsweise Einrichtung von insgesamt 40 "Gesamtschulen" und die Erprobung einer zweijährigen "Orientierungsstufe" war politisch nicht durchsetzbar.

Mit der Ölkrise und der einsetzenden Rezession wuchsen die Finanzierungsvorbehalte gegenüber den im "Bildungsgesamtplan" 1973 skizzierten Leitlinien. Insbesondere den Gesamtschulen wurde vorgeworfen, dass sie aus Gründen der Gleichheit den Unterricht in leistungsheterogenen Gruppen durch eine Absenkung der durchschnittlichen Leistungsansprüche ermöglichen würden. Auch wenn sich die Behauptung wissenschaftlich nicht bestätigen ließ, genügte der Vorbehalt, um die Kultusministerkonferenz zu Beginn der 1980er Jahre zu der Empfehlung zu veranlassen, die Gleichwertigkeit der von Gesamtschulen verliehenen Abschlüsse nur dann anzuerkennen, wenn diese sich in ihrer Bewertungspraxis am dreigliedrigen System orientieren und zur äußeren Fachleistungsdifferenzierung zurückkehren. Damit war klar, dass die Vorschläge, Stufenabschlüsse einzuführen und den Aufbau von Gesamtschulen nach der Versuchsphase systemisch voranzutreiben, nicht mehrheitsfähig waren.

Die Wendezeit Zu Beginn der 1990er Jahre rückten die Schulstrukturen erneut in den Blick. Ausgehend von der Beobachtung, dass Hauptschulen in der Bundesrepublik tatsächlich vielerorts "ausgepowert" waren, verzichtete man im Zuge der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern auf deren Einführung. Stattdessen trieb man die Einrichtung von Sekundarschulen mit teilintegrierten Haupt- und Realschulbildungsgängen voran. Zudem wurde das Gymnasium als zweite Säule flächendeckend eingeführt.

Damit war die in der DDR staatlich verordnete Begrenzung des Zugangs zur zweijährigen Erweiterten Oberschule auf höchstens zehn Prozent eines Altersjahrgangs auf einen Schlag beseitigt. Da von der in Aussicht gestellten Bildungsexpansion viele profitierten und die scheinbare Ähnlichkeit der westdeutschen Gesamtschule mit der seit 1965 zehnklassig ausgebauten Polytechnischen Oberschule genügte, um die Integrierte Gesamtschule als pädagogische Option auszuschließen, erfolgte der Systemwechsel ohne großen schulpolitischen Streit.

Das unerwartet schwache Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler bei der internationalen PISA-Studie sorgte am Jahresende 2001 für neue Aufregung. Die Daten belegten unmissverständlich, dass der Schulerfolg hierzulande noch immer eng mit Faktoren der sozialen Herkunft verbunden war. Ein direkter Zusammenhang mit der Schulstruktur ließ sich empirisch jedoch nicht eindeutig belegen. Auffallend aber war, dass vergleichbare Länder, die in der PISA-Spitzengruppe platziert waren, durchweg längeren gemeinsamen Unterricht ermöglichten und den Einzelschulen größere organisatorische und pädagogische Handlungsfreiräume gewährten. Versuche, wie in Hamburg, die Grundschulzeit zu verlängern, scheiterten aber am Bürgerbegehren.

Dafür wurden in fast allen Bundesländern moderate Strukturreformen angeschoben, die in ihren Wirkungen deutlich über das bis dahin Konsensfähige hinausgehen. So wurde im Sekundarbereich die Neugründung von Schulen mit zwei oder drei Bildungsgängen ermöglicht, mit der Folge, dass inzwischen auch in den westlichen Bundesländern, vor allem aber in den Stadt-Staaten, "Zwei-Säulen-Systeme" etabliert sind.

Inklusion Allerdings zeigen die aktuellen Entwicklungen auch, dass die seit den 1960er Jahren monierten sozialen Disparitäten fortbestehen. Nach wie vor sind die im Sekundarschulsystem erreichbaren Abschlüsse an Bildungsgänge und Schulformen unterschiedlicher Wertigkeit gebunden, obwohl mit dem kompetenztheoretischen Paradigmenwechsel in der Schulpädagogik längst andere Formen der Lernstandsdiagnose und der Leistungszertifizierung möglich sind. Im Wettbewerb um leistungsstarke Kinder verlieren die integrierten Schulformen bei einer durch Inklusion verunsicherten Elternschaft an Boden, während die Gymnasien mit der größeren Leistungsheterogenität in ihrer Schülerschaft zunehmend Schwierigkeiten haben.

Nicht zuletzt werden Lehrkräfte im Studium und in den Studienseminaren noch immer auf die Arbeit in einem gegliederten Schulsystem vorbereitet. Berufsneulingen im Sekundarbereich fällt es nach siebenjähriger Ausbildungszeit häufig schwer, mit heterogenen Lerngruppen zu arbeiten. Es ist darum kaum verwunderlich, wenn der derzeit sich in den Schulen vollziehende Generationswechsel nicht dazu beiträgt, die bildungspolitisch seit 2009 priorisierte Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu beschleunigen. Wir werden also die Frage nach der realisierten Bildungsgerechtigkeit nicht los. Sie bleibt auch zukünftig Ziel und Navigationshilfe bei der Demokratisierung des Schulsystems.

Der Autor ist Professor an der Georg-August-Universität Göttingen und leitet dort den Arbeitsbereich Pädagogische Sozialisationsforschung.