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Schulformen : Bunte Landschaften

Viele Reformen sind teuer und bleiben erfolglos

04.12.2017
2023-08-30T12:32:30.7200Z
5 Min

Die Schullandschaft in Deutschland entwickelt sich zumindest qua Namengebung immer vielfältiger. Je nach politischer Provenienz wird diese Entwicklung von manchen bedauert, von manchen begrüßt. Kritiker sehen darin eine zunehmende Unübersichtlichkeit, progressive Reformer erhoffen sich davon einen Abschied vom - wie sie sagen - "dreigliedrigen" Schulsystem. Letztere sehen mit Wohlwollen einen Trend zu einem zweigliedrigen Schulsystem als Zwischenstation zu einer Gesamt - beziehungsweise Gemeinschaftsschule. Tatsächlich haben sich auch die meisten deutschen Länder von der Hauptschule als eigenständiger Schulform verabschiedet - womöglich in der Annahme, dass mit der Hauptschule zugleich der Hauptschüler mit seinen spezifischen Förderbedürfnissen abgeschafft werden könne. Damit ist in vielen Bundesländern zugleich die über Jahrzehnte hinweg stabilste Schulform, die Realschule, als eigene Schulform verschwunden.

Stets mehr als dreigliedrig Das deutsche Schulwesen war übrigens immer mehr als dreigliedrig: In den meisten deutschen Ländern war es inklusive Gymnasium, Realschule, Hauptschule, Gesamtschule viergliedrig. Mit der Abschaffung der Hauptschule wird es jetzt pro forma teilweise drei- oder nur zweigliedrig. Wenn man allerdings die verschiedenen Schulformen des Förderschulwesens und des Schulwesens im dualen und vollzeitschulischen Berufsbildungsbereich hinzurechnet, war und ist das deutsche Schulwesen mehr als zehngliedrig.

Was jetzt an vermeintlicher Vielfalt beziehungsweise Unübersichtlichkeit hinzugekommen ist, das sind nur stets neue Namen für Schulformen, die mit oder ohne Gymnasialzweig beziehungsweise mit oder ohne Oberstufe eigentlich Gesamtschulen en miniature sind: Gemeinschaftsschulen (Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt), Werkrealschule (Baden-Württemberg), Mittelschulen (Sachsen), Oberschulen (Berlin, Brandenburg, Bremen, Hessen, Niedersachsen), Sekundarschulen (Bremen, NRW, Sachsen-Anhalt), Stadtteilschulen (Hamburg), Erweiterte Realschulen (Saarland), Realschule plus (Rheinland-Pfalz), Regionale Schulen (Mecklenburg-Vorpommern). All diese Namen und noch mehr finden sich im Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) vom 25. September 2014 mit dem Titel "Vereinbarung über die Schularten und Bildungsgänge im Sekundarbereich I".

Warum in Anlehnung an die Gesamtschule ständig neue voll- oder teilintegrierte Schulformen kreiert werden, ist schwer nachvollziehbar. Denn Faktum ist: Die deutsche Gesamtschule hat Jahrzehnte durchschlagender Erfolglosigkeit hinter sich. Die Tatsache, dass Finnland bei den ersten Pisa-Studien als - vermeintliches - Gesamtschulland sehr gut abgeschnitten hat, sagt wenig aus. Viel näherliegender ist die Tatsache, dass die deutsche Gesamtschule seit den 1970/80er Jahren in allen einschlägigen Studien schlecht abgeschnitten hat. Besonders eindrucksvoll ist hier die Studie aus den 1990er Jahren mit dem Titel "Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugendalter" (BIJU) des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (MPIB). Für NRW etwa wird als Hauptergebnis festgehalten: Am Ende der 10. Klasse liegen Gesamtschüler in Mathematik im Vergleich mit Realschülern um zwei, im Vergleich mit Gymnasiasten um mehr als zwei Jahre zurück - und das trotz einer Schülerklientel der Gesamtschule, die sich von der Klientel der Realschule weder hinsichtlich sozialer Herkunft noch hinsichtlich intellektueller Fähigkeiten unterscheidet.

Solange der Pisa-Test noch nach Bundesländern und nach Schulformen differenziert ausgewertet wurde, konnte man auch damit feststellen, zum Beispiel bei Pisa 2006: Die deutsche Gesamtschule rangierte mit 477 Punkten 48 Punkte (also gut ein Schuljahr) hinter der Realschule (525) und mit 121 Punkten (entsprechend drei Schuljahren) weit hinter den Gymnasien (598). Zudem sind Sachsen und Bayern eben ohne Gesamtschulen die einzigen deutschen Länder, die bei Pisa nahe an die internationale Pisa-Spitze herankamen. Und dass das vormalige Bildungs-Musterland Baden-Württemberg von 2011 bis 2016 bei Vergleichstests abgestürzt ist, hat unter anderem mit der dort in dieser Zeit politisch favorisierten Gemeinschaftsschule zu tun. Die Erfolglosigkeit deutscher Gesamtschulen ist den Steuerzahler zudem teuer zu stehen gekommen; sie ist nämlich 25 bis 30 Prozent teurer als Schule des gegliederten Schulwesens.

Es stimmt auch nicht, Deutschlands Schulwesen sei nicht durchlässig. Richtig ist: Hinsichtlich Durchlässigkeit sind zwei Aspekte voneinander zu unterscheiden: Horizontale Durchlässigkeit ist gegeben, wenn Schüler in den Jahrgangsstufen 5 bis inklusive 10 zwischen verschiedenen Schulformen beliebig wechseln können. Vertikale Durchlässigkeit ist gegeben, wenn jeder Schulabschluss zugleich einen Anschluss an weiterführende Bildung im Oberstufen- und im beruflichen Bildungsbereich darstellt. Letzteres ist Realität: Der Anteil der Studienanfänger, die nicht über den Weg des Gymnasiums an die Hochschule kommen, ist immer größer geworden, er hat längst die 40-Prozent-Marke überschritten.

Die stets unter Berufung auf Pisa behauptete soziale Disparität des deutschen Bildungswesens ist nicht Realität; sie ist ein Pisa-Artefakt. Man kann soziale Disparität beziehungsweise Parität nämlich nicht mit Pisa messen, weil Pisa Fünfzehnjährige testet und damit die vertikale Durchlässigkeit gar nicht erst in den Blick nimmt. Eine Langzeitstudie von Professor Helmut Fend hat zudem 2008 nachgewiesen: Der Besuch einer Gesamtschule oder einer integrierten Förderstufe schafft keineswegs verbesserte soziale Aufstiegsmöglichkeiten gegenüber dem Besuch einer Schulform des gegliederten Schulwesens.

Es ist außerdem wenig hilfreich, wenn man sich in Deutschland immer wieder auf Skandinavien beruft. Richtig ist vielmehr: Dänemark, Norwegen und Schweden liegen seit Pisa 2006 hinter Deutschland. Man nehme das Beispiel Schweden mit seinem Gesamtschulsystem: Beklagt wird, dass viele Schüler intellektuell unterfordert sind; dass die Kernfächer zu kurz kommen; dass die Benotung zu spät einsetzt und dass das Leistungsprinzip vernachlässigt wird. Speziell zu Finnland muss man wissen: Finnische Schulen haben Umstände, die auf deutsche Verhältnisse nicht übertragbar sind. Zum einen hat beziehungsweise hatte Finnland eine ethnisch sehr homogene Bevölkerung, also kaum Probleme mit der schulischen Integration von Migrantenkindern: Zum Zeitpunkt der ersten Pisa-Studien 2000 bis 2009 hatten von den finnischen Schülern nur 1,2 Prozent Eltern, die beide im Ausland geboren sind. Zum anderen sind die Rahmenbedingungen für finnische Schulen optimal. Die durchschnittliche Klassenfrequenz liegt bei 18 Schülern (in Deutschland bei 23 bis 24). Ein besonderes Merkmal des finnischen Systems ist zudem sein Fördersystem. Schwächere Schüler werden in Spezialkurse aufgenommen (circa ein Sechstel der Schüler). Finnland fällt allerdings bei Pisa zurück. Experten führen das auf Sparmaßnahme im Bildungswesen, auf einen zunehmenden Migrantenanteil und auf eine Wende weg vom straff lehrerzentrierten hin zum lockereren schülerzentrierten Unterricht zurück.

Grundschuldauer Es hat jedenfalls keinen Zweck, in Deutschland ständig Strukturdebatten in Richtung Egalisierung der Schulformen zu führen oder immer neue Namen von Schulformen zu erfinden. Auch die Frage nach der Dauer der Grundschule muss nicht wieder und wieder diskutiert werden; diese Frage ist eindeutig beantwortet. Was den Zeitpunkt der Differenzierung betrifft, so sagen die Fakten und alle namhaften Studien eindeutig aus: Sechsjährige Grundschule bringt nichts - weder kognitiv noch sozial. Deutsche Länder mit einer längeren gemeinsamen Schulzeit wie Berlin und Brandenburg mit einer sechsjährigen Grundschule gehören zu den innerdeutschen Pisa-Verlierern. Der Lernrückstand von Grundschülern in Berlin nach der 6. Klasse gegenüber Schülern, die grundständige weiterführende Schulen besuchen können, beträgt bis zu einem Lernjahr. Bislang existieren jedenfalls keinerlei wissenschaftliche Erkenntnisse, denen zufolge eine Zuweisung der Schüler zu einer weiterführenden Schule höhere Erfolgsquoten nach einer fünf- oder sechsjährigen Grundschulzeit nachweisen könnte.

Alles in allem: Differenzierung nach Schulformen in einem vertikal durchlässigen System, in dem es keinen Abschluss ohne Anschluss gibt, hat seinen Sinn. Hier können Schüler am besten gefördert werden. Die Träume einer inneren, also rein unterrichtlichen Differenzierung in einheitlichen und sehr heterogenen Klassen sind Träume geblieben. Allerdings gibt es einen Trend, der den Differenzierungsgrad des deutschen Schulwesens zusätzlich gefährden könnte: nämlich der Run auf die Gymnasien. Wenn - extrapoliert - eines Tages alle am Gymnasium sind, dann ist keiner mehr am Gymnasium, weil das Gymnasium dann - ausgestattet mit schönem Türschild - klammheimlich eine undifferenzierte, anspruchslose Einheitsschule geworden ist.