In diesen Tagen mag Dirk Weinert (Name geändert) seinen Job etwas weniger gern als sonst. "Die Touren nehmen gar kein Ende", sagt der Dresdner DHL-Bote, "die Leute bestellen wie verrückt." Jeden Tag sei sein Fahrzeug rappelvoll; jeden Tag sei er abends vollkommen platt vom Geschleppe des Tages. "Wir liefern ja nicht nur ein paar Pakete aus. Ich habe Matratzen, Geschirr und Weinkisten zuzustellen. Manchmal frage ich mich, ob überhaupt noch jemand in die Geschäfte geht und dort einkauft. Aber ganz ehrlich? Ich mache es ja auch nicht anders."
Die Art, wie Menschen konsumieren, hat sich in den vergangenen Jahren drastisch verändert. Besonders deutlich wird das jährlich vor Weihnachten: Im Dezember nehmen die Paketlieferungen an Privathaushalte drastisch zu. Schätzungen zufolge liefern Paketdienste wie DHL, Hermes, GLS und DPD an den Werktagen in der Weihnachtszeit rund 50 Prozent mehr Pakete aus als im Rest des Jahres. Nach Berechnungen des Bundesverbands Paket- und Expresslogistik wurden im Jahr 2016 rund drei Milliarden Paket-, Express- und Kurier-Sendungen verschickt, das waren rund 7,2 Prozent mehr als 2015. Bei der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi geht man davon aus, dass die Sendungsmengen jährlich um sechs bis zwölf Prozent wachsen.
Umsätze steigen stark Diese Entwicklung ist ohne die Digitalisierung nicht zu denken. War das Einkaufen lange Zeit an Öffnungszeiten und Orte gekoppelt, stehen heute alle Möglichkeiten zu jeder Tages- und Nachtzeit zur Verfügung, denn Online-Shops kennen keinen Ladenschluss. Internet-Handelsgiganten wie Amazon oder Zalando erreichen immer mehr Menschen: Nach einer Studie der Beratungsgesellschaft PwC sind 90 Prozent der Internet-Käufer Kunden bei Amazon. Jeder zehnte Befragte gab an, ausschließlich bei Amazon zu kaufen. Global betrachtet haben laut PwC 28 Prozent der Menschen ihr Einkaufsverhalten wegen des Online-Handels geändert und nutzen deshalb seltener den örtlichen Einzelhandel. In Deutschland betrug ihr Anteil 34 Prozent, in den USA sogar 37 Prozent.
Wie wir konsumieren, ist vor allem abhängig vom Angebot - und ganz offensichtlich mögen Menschen es auch beim Einkaufen vor allem bequem. Diese Erkenntnis setzte bereits 1886 der Unternehmer Ernst Mey in die Tat um. Er brachte seine ersten Warenkataloge auf den Markt, aus denen Kunden zu Hause in aller Ruhe auswählen konnten. In den 1920er und 1930er Jahren blühte der Versandhandel auf und erlebte nach dem Krieg einen weiteren Boom. Zum Ende des Jahrhunderts florierte vor allem das Teleshopping: Auf die freundliche Beratung im Geschäft um die Ecke wurde gern verzichtet, wenn man für die Auswahl des neue Kaffeeservices die Couch nicht verlassen musste. Trotz dieser Veränderungen klassifizieren Experten immer noch drei Kundentypen: jene, die ausschließlich im Laden kaufen, andere, die nur selektiv online auswählen und jene, die komplett auf E-Commerce setzen.
Nach Prognosen des Handelsverbandes Deutschland HDE erwirtschaftet der Online-Handel 2017 einen Umsatz von knapp 49 Milliarden Euro. Das Kölner Institut für Handelsforschung schätzt, dass der Online-Umsatzanteil am Einzelhandel auf bis zu 22 Prozent im Jahr 2020 steigen wird.
Knochenjob Doch wo bestellt wird, muss auch geliefert werden. Und genau das ist der Pferdefuß des Online-Handels. Denn die endlosen Schlangen der Lieferfahrzeuge verstopfen die Straßen und verpesten die Luft. Mehr als zehn Millionen Sendungen werden von den rund 220.000 Angestellten der Branche pro Tag umgeschlagen. Dabei sind ihre Arbeitsbedingungen stark davon abhängig, für welchen Dienstleister sie arbeiten. Während direkt beschäftigte Mitarbeiter von Deutscher Post und DHL nach Tarif bezahlt werden und über Betriebsräte Mitbestimmungsrechte haben, tummeln sich unter den Subunternehmern nach Angaben der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi viele schwarze Schafe. Hier sei die Bezahlung schlecht, es gebe kaum Absicherung, dafür aber einen Knochenjob. Die Folge: Überforderte Boten stellen Sendungen an unmöglichen Stellen ab; Kunden sind erbost, weil nicht geklingelt wurde und sie ihre Sendungen am nächsten Tag in der Filiale abholen müssen.
Neue Tante-Emma-Läden Der Wandel des Konsumverhaltens hat aber nicht nur mit Versand- und Onlinehandel, sondern auch mit der Verdrängung kleiner Einzelhändler durch große Discount-Ketten zu tun. Und dies hat wiederum direkte Folgen für die Mobilität, die nötig ist, um zu konsumieren. Da es besonders in Dörfern strukturschwacher Regionen inzwischen weder Fleischer und Bäcker noch Apotheken gibt, dafür aber in der nächstgrößeren Stadt große Supermärkte, verlängern sich die Einkaufswege. So hat sich nach Berechnungen des Berliner Instituts für Ökologische Wirtschaftsforschung die Zahl der Kilometer, die die Deutschen für ihre Einkäufe mit dem Auto zurücklegen, zwischen 1982 bis 2002 verdoppelt. Aus der Antwort der Bundesregierung (18/3950) auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (18/3688) geht hervor, dass die Zahl der Lebensmittelmärkte in kleineren Orten von 1966 bis 2013 um 75 Prozent gesunken ist.
Weil viele Menschen die Dinge, die sie brauchen, eben nicht ausschließlich aus dem Internet beziehen oder dafür lange Wege in Kauf nehmen wollen, entsteht vielerorts mittlerweile eine Gegenbewegung zur Digitalisierung des Konsums. Experten wie Claudia Neu, Soziologin an der Hochschule Niederrhein, schätzen, dass es rund 200 Initiativen in Deutschland gibt, über Dorfläden und so genannte Markttreffs Dienstleistungen und Kaufangebote wieder in die soziale Mitte der Orte zu holen. Dafür gibt es sogar Mittel der Europäischen Union und des Bundes für die ländliche Entwicklung. Auch die Fuldaer Handelskette Tegut setzt auf die Wiederbelebung der altbekannten Tante-Emma-Läden und eröffnet seit einigen Jahren in Dörfern ohne Nahversorgung so genannte "Lädchen für alles".
Die Autorin ist freie Journalistin Dresden.
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