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GEDENKSTUNDE : Ein Akt später Gerechtigkeit

Angehörige erinnern an die lange tabuisierten Schicksale der NS-»Euthanasie«-Opfer

30.01.2017
2023-08-30T12:32:14.7200Z
5 Min

Das Grauen verbirgt sich hinter einem schlichten Kürzel: "T4". Es steht für die Tiergartenstraße 4 in Berlin, jenem Ort, an dem die Nationalsozialisten ihr menschenverachtendes "Euthanasie"-Programm planten und organisierten. "T4", das bedeutete ab 1939 die Zwangssterilisation und später systematische Ermordung von schätzungsweise 300.000 Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen und psychischen Krankheiten. Sie galten den Nazis als "Parasiten am gesunden deutschen Volkskörper", als "lebensunwertes Leben".

"Ballastexistenzen" seien die Kranken genannt worden, berichtete der Publizist Hartmut Traub am vergangenen Freitag in der Gedenkstunde des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus, die in diesem Jahr zum ersten Mal insbesondere an diese Opfergruppe erinnerte. Durch massive Propaganda, erzählte Traub in der bewegenden Zeremonie, sei eine öffentliche Meinung gebildet worden, "wonach diese Kranken dem Staat und der Gesellschaft ökonomische Ressourcen entzögen, die an anderer Stelle dringend benötigt wurden". In sechs über das Reichsgebiet verteilten Tötungsanstalten hätten die Nationalsozialisten die Kranken ermordet, gemäß dem politisch gesteckten Ziel: "Ausmerze im Dienst der Rassenhygiene".

Eines der Opfer war Traubs Onkel Benjamin. Nach einem Unfall psychisch erkrankt, habe "Beni", wie ihn die Familie nannte, nach den Kriterien von "T4" zum Kreis der Patienten gehört, "der für den Abtransport in eine Tötungsanstalt vorgesehen war". Er sei "ein freundliches, intelligentes Kind" und ein guter Schüler gewesen, habe Musiker werden wollen. Doch die Nazis hielten ihn erst monatelang in einer psychiatrischen Klinik fest und brachten ihn schließlich in die Vergasungseinrichtung im nordhessischen Hadamar, wo der 27-Jährige nur wenige Stunden später in der Gaskammer erstickte.

Für das "examinierte Pflegepersonal" der Anstalt sei das "normaler Arbeitstag gewesen", sagte Traub. "Menschen-Vernichtungs-Routine. Durchgeführt an 60 Patienten täglich. Und das bereits seit mehreren Monaten."

Den Zuhörern, darunter 80 Jugendliche aus 15 Ländern, die an der alljährlichen Jugendbegegnung des Bundestages teilgenommen haben (siehe untenstehenden Text), gab er die Botschaft mit: "Manches Erinnern ist eine Pflicht, die uns der Wille zur Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit gegenüber Schuld und Versagen auferlegt."

Wie unglaublich schwer dieses Erinnern jedoch selbst den Familien der Opfer lange fiel, schilderte eindrücklich die Berliner Lehrerin Sigrid Falkenstein, die erst 2003 durch Zufall im Internet auf eine Liste von Opfern der NS-"Euthanasie" stieß - und darin auf den Namen ihrer Tante Anna. Deren Schicksal sei in der Familie bis dahin kein Thema gewesen. "Annas Spur verlor sich in Formulierungen wie: 'Sie wurde irgendwann in den dreißiger Jahren in irgendeine Anstalt gebracht und ist irgendwo während des Krieges gestorben", berichtete Falkenstein. "Fassungslos über dieses scheinbare Vergessen" habe sie sich auf Spurensuche begeben und Annas Biografie vor allem mit Hilfe von Patientenakten und anderen amtlichen Dokumenten rekonstruiert. Was sie fand, passte so gar nicht zu den frühen Fotos, auf denen die Kleine "so unbeschwert in die Kamera lacht". 1934 habe sich das lernbehinderte Mädchen einer "fragwürdigen Intelligenzprüfung" unterziehen müssen, in deren Ergebnis "angeborener Schwachsinn" diagnostiziert worden sei - ihr Todesurteil. "Anna hat die Selektionskriterien ihrer Mörder sozusagen perfekt erfüllt", erzählte Falkenstein mit leiser Stimme: "Gilt als unheilbar, ist lästig - so steht es wörtlich in ihrer Akte - und vor allem leistet sie keine produktive Arbeit, ist also eine sogenannte nutzlose Esserin". Anna ist 24 Jahre alt, als sie in der Gaskammer stirbt.

Falkenstein vermutet, dass die weit verbreitete Sprachlosigkeit über diese Verbrechen viel mit Scham zu tun hatte. "Die Opfer, die Überlebenden und ihre Familien wurden in beiden deutschen Staaten weiterhin diskriminiert und stigmatisiert." In der Folge sei die gesellschaftliche, juristische und politische Aufarbeitung "völlig unzureichend" geschehen. Bis heute werde den Opfern die Anerkennung als NS-Verfolgte und die Gleichstellung mit anderen Verfolgtengruppen versagt. Auch erschwere die Gesetzeslage die öffentliche Nennung der Namen von "Euthanasie"-Opfern, weil sich Familienangehörige dadurch stigmatisiert fühlen könnten. "Eine Argumentation, die an rassenhygienische Denkmuster anknüpft", urteilte Falkenstein und forderte: "Es ist an der Zeit, diese unheilvolle Kontinuität zu durchbrechen und die Opfer in das familiäre und kollektive Gedächtnis zu holen." Dass der Bundestag den Opfern offiziell gedenke, werte sie als "ein besonderes, ja, vielleicht historisches Ereignis" und einen "Akt später Gerechtigkeit".

Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) nannte die "jahrelange Gleichgültigkeit in Wissenschaft, Medien und Politik" in seiner Rede "erschütternd". Erst 2007 habe der Bundestag das Zwangssterilisationsgesetz des NS-Regimes geächtet, "und nicht vor 2011 konnten wir uns dazu durchringen, dem bis dahin nur auf private Initiative ermöglichten Gedenken an die NS-Krankenmorde mit Hilfe öffentlicher Fördermittel einen angemessenen Rahmen zu verleihen". 2014 wurde daraufhin der Gedenk- und Informationsort in der Tiergartenstraße 4 eröffnet. "Erst die Einzelschicksale der Gequälten und Ermordeten lassen uns wirklich erkennen, was unschuldigen Menschen angetan wurde", betonte Lammert und schilderte beispielhaft den Leidensweg des Hilfsarbeiters Ernst Putzki, den die Gestapo 1942 wegen des Verfassens und Verteilens von Schreiben angeblich "staatsfeindlichen Inhalts" festnahm und später wegen vermeintlicher "Geisteskrankheit" in die Provinzheilanstalt Warstein einlieferte. Am 9. Januar 1945 starb er 43-jährig in Hadamar - angeblich an einer Lungenentzündung.

Einen von Putzkis vielen Briefen an Freunde und Familie, in denen er die unmenschlichen Zustände in den Anstalten beschreibt, verlas der Schauspieler Sebastian Urbanski, geboren mit dem Down-Syndrom, im Plenum; es war das erste Mal in der Geschichte des Bundestags, dass ein Mensch mit geistiger Behinderung im Parlament spricht. "Von den Warsteinern, die mit mir auf diese Siechenstation kamen, leben nur noch wenige", schreibt Putzki darin an "seine liebe Mutter". "Die Menschen magern hier zum Skelett ab und sterben wie die Fliegen. (...) Wir (...) sind in dünnen Lumpen gekleidet, in denen ich schon mehr gefrohren [sic] habe wie einen ganzen Winter in Hagen. Vor 5 Wochen haben wir zuletzt gebadet und ob wir in diesem Jahre noch baden, wissen wir nicht."

Die Geschichte zeige, sagte Lammert, dass die Würde des Menschen antastbar sei. "Nirgendwo wurde dieser Nachweis gründlicher geführt als in Deutschland." Deshalb müsse Artikel 1 des Grundgesetzes "kompromisslose Richtschnur unseres Handelns sein und bleiben, ein kategorischer Imperativ, um nie wieder zuzulassen, dass Menschen ausgegrenzt, verfolgt und in ihrem Lebensrecht beschnitten werden", mahnte er. "Das schulden wir allen Opfern, derer wir heute gedenken." (Wortlaut der Reden in der Debattendokumentation) Johanna Metz