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Jugendbegegnung : Den Ort des Schreckens fühlen

In Pirna-Sonnenstein töteten die Nazis Tausende Behinderte und Kranke. Eindrücke von einer Reise zum Ort des systematischen Mordens

30.01.2017
2023-08-30T12:32:14.7200Z
4 Min

Ein kahler Keller, nicht groß, vielleicht 20 Quadratmeter. Auf den ersten Blick unscheinbar, unauffällig - und doch werden die Jugendlichen, die gerade die Wände aufmerksam mustern, diesen Ort im Gedächtnis behalten. Ihr Blick haftet an den kreisrunden, mit Mörtel überdeckten Stellen knapp unterhalb der Decke. "Hier sind früher die Rohre entlang gelaufen, durch die das Kohlenmonoxyd in die Kammer hineingeleitet wurde", hören sie. "Außerdem gab es hier früher mehrere Dusch- kopfattrappen."

Durch den "Warteraum", in dem die Nazis damals zur Täuschung auf Holzbänken Seife, Waschlappen und Handtücher bereitgelegt hatten, sind die Jugendlichen hierher gelangt. Nun ist klar: Wo sie jetzt stehen, da haben die Nationalsozialisten ihren Massenmord verübt. Genau hier mussten 14.751 Menschen sterben, weil sie als "nicht lebenswertes Leben" klassifiziert worden waren. Ein Arzt beobachtete seinerzeit den qualvollen Tod durch einen Sehschlitz in der Tür. Die jungen Leute, Teilnehmer der Jugendbegegnung des Bundestages, schweigen betroffen.

Systematisch verfolgt Industrialisiertes Töten mitten in Deutschland - das gab es hier in Pirna-Sonnenstein, in Sachsen. Als "Euthanasieprogramm" bezeichneten die Nazis die planmäßig betriebenen Morde euphemistisch. Sie wollten sie als "Gnadentod" von vermeintlich unheilbar Kranken verschleiern. Im August 1939 gab Hitler das Ermordungsprogramm in Auftrag, das als "Aktion T4", bekannt ist: Die Einrichtung von sechs Tötungsanstalten, in denen Ärzte in den Jahren 1940 und 1941 Menschen mit Behinderung, psychisch Kranke, aber auch Alkoholabhängige und "Asoziale" vergasten. Systematische Verfolgung und Tötung waren zu diesem Zeitpunkt schon in vollem Gange: Auf der Grundlage des "Gesetzes zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses" aus dem Jahr 1933 führten Ärzte Zwangssterilisierungen durch und zwangen Frauen zur Abtreibung. Behinderte Kinder und Jugendliche waren schon seit Frühjahr 1939 mittels Meldebogen erfasst und mit Medikamenten getötet worden. Andere verhungerten. Dem "Euthanasieprogramm" fielen zwischen 1939 und 1945 schätzungsweise 300.000 Menschen zum Opfer.

Verbrechen verstehen Die Teilnehmer der Jugendbegegnung kennen die grausamen Fakten. Sie sind nach Pirna gereist, um sich mit den "Euthanasie"-Morden auseinanderzusetzen und sich über ihr Engagement gegen das Vergessen auszutauschen. Die Gründung der damals progressiven Heilanstalt Pirna im Jahr 1811, das Aufkommen "rassenhygienischer" Ideen im 19. Jahrhundert und deren Radikalisierung durch die Nazis - diese Themen haben sie heute schon bearbeitet. Der Besuch der Kellerräume geht ihnen nah. "Wichtiger als die Information ist es für mich, den Ort selbst zu fühlen", sagt Vladimir Stazherov aus Sankt Petersburg in Russland. Das sei eine besondere Form des Lernens. "Man merkt, dass etwas Schreckliches passiert ist, das sich nie wiederholen darf", sagt der 21-Jährige. Simon Kirkils, Schüler des jüdischen Gymnasiums Moses Mendelsohn in Berlin, schildert einen ähnlichen Eindruck: "Man kann die Schwere des Orts fühlen. Das war sehr ergreifend." Ihm hätten auch die Opferbiografien auf den Gedenktafeln dabei geholfen, den Ablauf des Verbrechens besser zu verstehen, erzählt der in Riga geborene 18-Jährige weiter.

Die Gruppe geht nach nebenan, in den "Leichenraum", in dem Mitglieder der Waffen-SS die Toten damals sortiert haben. Und in den "Krematoriumsraum", wo eine Stahlinstallation die Umrisse eines Verbrennungsofens andeutet. Schließlich in den "Kaminraum", in dem die Spuren eines viereckigen Schornsteins noch zu sehen sind. Mehrere Leichen wurden gleichzeitig in den Öfen verbrannt. Angehörige erhielten, wenn überhaupt, eine Urne mit dem "Asche-Knochen-Gemisch" verschiedener Menschen. Die restliche Asche kippte das Personal auf das Gelände und eine Deponie. Schwarz-weiße Markierungen an den Bäumen hinter dem Haus zeigen die Fläche an, auf der die Asche gesammelt wurde.

»Trostbriefe« getippt "Dass die Täter so eiskalt und ideologietreu waren, schockiert mich immer wieder", sagt Simon. Der Geschichtsstudent Jesse Gamoran (22) aus den USA bekräftigt: "Alles wurde auf das wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Verhältnis reduziert, auf eine Gleichung ohne Emotionen." Es sei nicht verwunderlich, dass die rassenhygienischen Ideen in die Massenvernichtung mündeten, meint der Teilnehmer des Parlamentarischen Patenschaftsprogramms des Bundestags.

Beim Gang durch das Gebäude offenbart sich eine am Reißbrett geplante, genau durchgetaktete Tötungsmaschinerie, gestützt auf einen eigens geschaffenen Verschleierungsapparat. In Sonnenstein organisierten Ärzte und Pfleger die Tötungen, Schreibkräfte in den extra eingerichteten Standesämtern stellten Todesurkunden aus und tippten "Trostbriefe".

"Es gab ein System mit Landkarten und Kalender", berichtet Gedenkstätten-Mitarbeiterin Linda Fleck. Verwaltungsangestellte markierten auf den Karten den Herkunftsort jedes Opfers mit einer Stecknadel. "Wenn es zu Ballungen an einem Ort kam, veränderten sie das Todesdatum auf der Urkunde". Falls Angehörige in der Nähe einer Anstalt lebten, gab die Urkunde außerdem einen weiter entfernten Sterbeort an. Schließlich sollte niemand auf die Idee kommen, die Anstalt aufzusuchen.

Unten im Tal fließt die Elbe durch die Winterlandschaft, der Schnee bedeckt die Hausdächer wie Puderzucker. Das weitläufige, hügelige Gelände, der Fluss und die Ruhe- die Massenverbrechen fanden vor einer malerischen Kulisse statt. Die Stadt ist nah, zu nah, um nichts vom Geschehen auf dem Sonnenstein mitzubekommen. "Die Leute sahen die grauen Busse und den schwarzen Rauch", sagt Fleck. "Sie arrangierten sich damit". Eine ältere Frau habe erzählt, sie habe damals keine Wäsche aufgehängt, wenn sie die grauen Busse sah. Verschwiegen, vergessen, verdrängt. Erst in den 1980er Jahren setzten sich Wissenschaftler und Journalisten intensiver mit diesem Kapitel der deutschen Geschichte auseinander. Und nach und nach bekommen die "Euthanasie"-Opfer einen Platz im kollektiven Gedächtnis.