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Historie : Genau das Gegenteil

Als nach dem Ersten Weltkrieg 1919 eine neue Friedensordnung kam, konnte der Unterschied zum Wiener Kongress von 1814/15 nicht größer sein

09.04.2018
2023-08-30T12:34:27.7200Z
7 Min

Der Westfälische Friedensvertrag hinterließ einen wegweisenden Grundsatz: "Alle (...) Rechtsverletzungen, Gewalttaten, Kriegshandlungen, Schäden und Kosten", hieß es in Paragraf 2, sollen "ohne jede Rücksichtnahme auf Personen oder Sachverhalte so vollständig getilgt sein, dass das, was auch immer unter Berufung auf eine solche Sache einer gegen den anderen vorbringen könnte, in immerwährendem Vergessen begraben" sei.

Tilgen und Vergessen waren die beiden Maximen, die 1648 in das Völkerrecht geschrieben wurden. Ihre säkulare Leistung bewiesen sie einen Frieden später, im Wiener Kongress von 1814/15, der dem Kontinent die längste Friedensperiode seit dem Untergang des Römischen Imperiums bescherte. Was dagegen ihre Aufgabe bedeutete, zeigte die Friedensordnung, die ein Jahrhundert danach, 1919/20, in Versailles und anderen Vororten von Paris verabschiedet wurde. Nur 20 Jahre später setzte ein neuer, noch weitaus furchtbarerer Krieg die ganze Welt in Brand.

Der Vergleich zwischen den Friedensschlüssen von 1815 und 1919 liefert auf den ersten Blick einen weiteren Beleg für die These, dass der Mensch außerstande sei, aus seiner Geschichte zu lernen. Dabei hatte man sich doch darum bemüht. Erst in der Endphase des Ersten Weltkriegs hatte das britische Außenministerium den Historiker Charles Webster beauftragt, eine Darstellung des Wiener Kongresses zu schreiben. Schließlich lagen die Parallelen zum Sieg über Napoleon auf der Hand.

Totale Kriege Beide Kriege waren - gemessen an den Möglichkeiten ihrer Zeit - total gewesen und hatten beinahe alle Staaten Europas einbezogen. Beide Kriege hatten entsetzlich viele Menschenleben gekostet - sechs beziehungsweise 17 Millionen Tote. Beide Kriege waren im Namen unterschiedlicher politischer Ordnungssysteme und Ideologien geführt worden. Beide Kriege hatten eindeutige Sieger und Verlierer. Und beide Friedenskongresse nahmen für sich in Anspruch, eine Ordnung zu schaffen, die derartige Kriege zumindest für sehr lange Zeit aus der Welt schaffen würde. Aber warum gelang das in Wien, in Versailles aber nicht?

Vor allem hatte der Wieder Kongress ein großes Vorbild: den Westfälischen Frieden. Nachdem die Französische Revolution und ihr Kaiser niedergeworfen waren, ging es im Grunde darum, Europa wieder nach den gleichen Kriterien zu ordnen, wie dies 1648 der Fall gewesen war. Dass Frankreich darin eingebunden werden sollte, war bereits im Vorfrieden von Paris nach Napoleons Abdankung 1814 geklärt worden.

Wie das geschehen sollte, war ein Thema in Wien. Dabei bediente man sich der Spielregeln von Münster und Osnabrück. Es gab keine Plenardebatten, sondern die Verhandlungen wurden bilateral geführt. Auch setzte man sich nicht unter Zeitdruck, sondern nutzte die Annehmlichkeiten der Habsburger Residenz, um sich in Soiren, Bällen und Affären zu ergehen. Die Anwesenheit vieler Herrscher und Spitzenpolitiker machte das umfangreiche Begleitprogramm nötig, während viele Detailfragen in Kommissionen geklärt wurden.

Die Entscheidungen fällten Österreich, Russland, England und Preußen. Da sie Europa nach dem Vorbild der vorrevolutionären Zeit ordnen wollten, fiel es den vier Großmächten leicht, Frankreich unter der restaurierten Bourbonen-Dynastie in ihren Kreis aufzunehmen. So wurde das Land, in dem der Ruf nach Freiheit und Gleichheit seinen Siegeszug angetreten hatte, darin eingebunden, ihn wieder zu unterdrücken.

Fast 100 Jahre sollte das Vertragswerk von Wien den Frieden zwischen den europäischen Staaten einigermaßen sichern. Weder der Krimkrieg noch die italienischen und deutschen Einigungskriege weiteten sich zu lang anhaltenden Konflikten. Wenn auch die polizeistaatlichen Methoden, mit denen Österreichs Kanzler Metternich und seine Kollegen Europas Völkern jeden Gedanken an eine Revolution auszutreiben suchten, den Zeitgenossen die Erinnerung an den Wiener Kongress verleideten, so genossen diese doch ein bis dahin unbekanntes Maß an Ruhe und Ordnung.

Diese Rückschau aus historischer Perspektive reichte allerdings nicht aus, die Menschen mit dem Frieden von Wien zu versöhnen. Für sie zementierte er den Sieg über Bürger- und Menschenrechte. Deutsche Patrioten sahen sich zudem durch die Verweigerung eines Nationalstaats um die Früchte ihres Kampfes gebracht. Für sie erschien 1815 nur als Wiederauflage von 1648, als das "Heilige Römische Reich Deutscher Nation" als machtloser Trümmerflecken festgeschrieben worden war.

Der Albtraum von "fremden", vor allem französischen Heeren, die Deutschland wieder verwüsten würden, diskreditierte die Erinnerung an 1648 und 1815, wo ja scheinbar versäumt worden war, mit der Schaffung eines machtvollen neuen Reiches die nötige Sicherung zu errichten. In diesem Sinne schmiedeten preußische Militärs ihre Aufmarschpläne gegen Frankreich. Und der berühmte Historiker Leopold von Ranke begründete 1870 vor Paris die deutsche Kriegführung mit den Eroberungszügen Ludwigs XIV., der sich die Stadt Straßburg mit Verweis auf den Westfälischen Friedensvertrag angeeignet habe.

So ließen zunächst die Zeitläufte die Leistungen der Friedensschlüsse in Westfalen und Wien verschwimmen. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich. Dort empfand man es als Affront, dass die Proklamation des kleindeutschen Nationalstaats am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal Ludwigs XIV. in Versailles stattfand, dem Schloss, das doch der Größe Frankreichs gewidmet war. Der selbe Ort wurde auf den Tag genau 48 Jahre später von den Siegern gewählt, um die Friedensverhandlungen mit Deutschland zu eröffnen. Frankreichs Staatspräsident Raymond Poincaré erinnerte in seiner Rede daran, um zugleich die Linie seiner Regierung vorzugeben: Das Deutsche Reich "war somit schon befleckt in seinem Ursprung ... Sie sind versammelt, um das Übel wiedergutzumachen, das es angerichtet hat, und um seine Wiederkehr zu verhüten."

Krasser konnte der Unterschied zum Wiener Kongress nicht sein. Es wurde nicht mit dem geschlagenen Deutschland und seinen Verbündeten verhandelt, sondern über sie, wie es der Historiker Eberhard Kolb ausgedrückt hat. Das begann bereits mit der Wahl des Tagungsortes. Vehement widersetzte sich der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau dem britischen Vorschlag, in der Schweiz zu verhandeln. Stattdessen wurde über die künftige Ordnung Europas in einer Atmosphäre geurteilt, in der "die deutsche Schuld als bewiesen galt. Jedermann hatte Angst, für deutschfreundlich erklärt zu werden", beschrieb ein amerikanischer Teilnehmer die Lage.

Damit aber rückte ein Akteur an den Verhandlungstisch, den es in Wien zwar gegeben hatte, den aber weitmöglichst auszuschließen alle Beteiligten sich einig gewesen waren: die öffentliche Meinung. Dass Franzosen und Deutsche ihre "Erbfeindschaft" über ein Jahrhundert weiter gepflegt hatten, war nur die eine Seite. Die andere war vierjähriger totaler Krieg zwischen Nationalstaaten gewesen, der durch einen noch nie dagewesenen Einsatz moderner Propaganda angetrieben wurde. Millionen Soldaten der Entente hatten im Krieg ihr Leben verloren. Ihre Familien, ihre Nationen forderten Genugtuung in Form von Beute, Wiedergutmachung und Demütigung des Feindes, und radikale Parteien dienten sich ihnen als Anwälte an.

Anders als Metternich und Co. handelte es sich bei den Akteuren in Versailles um demokratisch gewählte Politiker, denen die Wünsche ihrer Wähler wichtiger waren als Mäßigung und Gerechtigkeit. Und die Situation schien günstig. Nachdem die Deutschen im November 1918 den Waffenstillstand unterzeichnet hatten, mussten sie innerhalb von 15 Tagen ihre Armeen zurückziehen und die effizienten Waffen ausliefern. Das Deutsche Reich war total geschlagen und zu einer Wiederaufnahme des Krieges nicht mehr im Stande.

Damit stand Deutschland nicht allein. Russland, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich lösten sich buchstäblich auf. Bürgerkriege tobten und hinter allem drohte die bolschewistische Weltrevolution. Die Zeit drängte, aber die großen Vier - Frankreich, Großbritannien, die USA und Italien - hatten weder ein gemeinsames Konzept noch ein einigendes Interesse, um die riesige Agenda zu bewältigen.

Clemenceau setzte alles daran, das Deutsche Reich auf absehbare Zeit derart zu schwächen, dass es Frankreich nicht mehr gefährlich werden konnte. Der britische Premier David Lloyd George drängte auf Gewinne für das Empire und umfangreiche Entschädigungen. Italiens Regierungschef Vittorio Emanuele Orlando verlangte ein Maximum an Beute. Um seinen Traum von einem Völkerbund durchzusetzen, verabschiedete sich US-Präsident Woodrow Wilson von seinem 14-Punkte-Programm, das unter anderem das Selbstbestimmungsrecht der Völker vertreten hatte, und gestand seinen Verbündeten viele Forderungen zu, die diesen Punkten diametral zuwider liefen. Eine Entschuldigung hatten ihm die Deutschen mit ihrer Vorstellung von einem Frieden selbst geliefert, als sie im März 1918 in Brest-Litowsk Russland buchstäblich zerstückelten.

Finaler Schuldspruch Um die zahllosen Probleme zu lösen und die kontroversen Wünsche ihrer Partner zu befriedigen, tagte der "Rat der Vier" innerhalb von drei Monaten 148 Mal - entsprechend kurzsichtig und konfus gerieten viele Entscheidungen, die Ursachen neuer Konflikte werden sollten, wie sich etwa bei der Aufteilung des Osmanischen Reiches bald zeigen sollte. Die völkerrechtliche Verantwortung dafür schob man den Verlierern zu. In Artikel 231 des Vertragswerks wurden "Deutschland und seine Verbündeten" zu "Urhebern für alle Verluste und Schäden des Krieges" erklärt. Was eigentlich exorbitante Reparationsforderungen legitimieren sollte, wurde zu einem finalen moralischen Schuldspruch. Der Weimarer Republik blieb nichts anderes übrig blieb, ihn zu akzeptieren. Damit aber öffnete sie ihren radikalen innenpolitischen Gegnern eine Flanke, an der sie nur verlieren konnte.

Dass die Weltordnung von Versailles nicht mit den Verlierern, sondern gegen sie verhandelt wurde, unterscheidet sie vor allem anderen von ihrem Wiener Vorgänger. Dort hatte man sich noch um das Tilgen und Vergessen bemüht, was der Westfälische Frieden vorgelebt hatte. Den Siegern in einem totalen Krieg der Nationen war so viel politische Vernunft nicht mehr gegeben.

Der Autor ist bei der "Welt" leitender Redakteur für Kulturgeschichte.