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abrüstung : Die Utopie

Hybride Kriegsführung und neue nichtstaatliche Akteure lassen die Träume von einer weitgehend waffenfreien Welt platzen

09.04.2018
2023-08-30T12:34:27.7200Z
5 Min

Zu den Teilnehmern der Ersten Haager Friedenskonferenz, zu der die niederländische Königin Wilhelmina auf Anregung des russischen Zaren Nikolaus II. eingeladen hatte, gehörte im Sommer 1899 auch der polnische, in Sankt Petersburg wirkende Bankier Ivan Bloch. Das Thema lag ihm am Herzen. Ein Jahr zuvor hatte er ein sechsbändiges Werk über den Krieg der Zukunft und seine ökonomischen Konsequenzen zum Abschluss gebracht. Eine englische Übersetzung verteilte er an die Delegierten. Die Botschaft seiner Studie ließ das, was Pazifisten als ethisches Gebot ansahen, zugleich als alternativloses Ergebnis erscheinen. Angesichts des Standes der Waffentechnik kann Krieg im Zeitalter der Massenheere kein Mittel der Politik mehr sein, das Interessenkonflikte zwischen großen Mächten löst, da selbst für den vermeintlichen Sieger Kosten und Verluste den erzielbaren Nutzen bei weitem übersteigen.

Weichenstellung Tatsächlich ließen sich sowohl die Erste als auch die Zweite, acht Jahre später anberaumte Haager Friedenskonferenz von dieser Logik leiten. In einer bis heute nachwirkenden völkerrechtlichen Weichenstellung konzipierten die Vertreter von zuletzt 44 Staaten einen rechtlichen und institutionellen Rahmen zur Lösung internationaler Streitfälle und vereinbarten Regeln, mit denen sich in einem Krieg, so er denn dennoch ausbräche, zivilisatorische Mindeststandards wahren ließen. Bestrebungen, darüber hinaus auch konkrete Abrüstungsschritte zu vereinbaren, blieben jedoch erfolglos.

Auch im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen, deren Potenzial zur globalen Verwüstung Ivan Blochs Argumentation doch so eindrucksvoll zu bestätigen schien, blieb Abrüstung als Instrument der Friedenssicherung eine Utopie. Zwar vermochten die Kontrahenten des Kalten Krieges, das Gleichgewicht des Schreckens durch Verträge zu stabilisieren; der Rüstungswettlauf zwischen Ost und West wurde jedoch nicht gestoppt. Es gibt vielmehr sogar Stimmen, die behaupten, dass das Ende des Kalten Krieges letztendlich ihm zu verdanken ist, weil die Sowjetunion ökonomisch nicht stark genug war, weiter mitzuhalten.

Abrüstung wurde somit in Europa erst möglich, als die Voraussetzungen, die zur Hochrüstung geführt hatten, entfallen waren. Alle wesentlichen Vereinbarungen wie der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE), der Open Skies Vertrag, das Wiener Dokument und selbst der Vertrag zur Verringerung strategischer Waffen (START) wurden unter Staaten getroffen, die sich nicht länger als Gegner, sondern als Sicherheitspartner betrachteten. Da sich niemand mehr in seinem unmittelbaren Umfeld Sicherheitsrisiken ausgesetzt sah, die eine Ausrichtung der Streitkräfte auf klassische Szenarien der Landesverteidigung erforderten, wurden in großem Stil Truppenstärken reduziert und Waffensysteme abgebaut.

Folgt auf fast drei Jahrzehnte faktischer Abrüstung in Europa nun eine neue Phase der Aufrüstung? In NATO und EU wachsen jedenfalls die Verteidigungsbudgets, und auch der langjährige Sparkurs der Bundeswehr geht zu Ende. Die Lage hat sich geändert, und Berlin sieht sich stärker als zuvor in der Verantwortung für Frieden und Stabilität. Die Sicherheit Europas ist durch Krisen und Konflikte an seiner Peripherie bedroht - im Süden, Südosten und Osten. Insbesondere hat Russland durch sein aggressives und völkerrechtswidriges Vorgehen (nicht allein) in der Ukraine den Mitgliedern von NATO und EU vor Augen geführt, dass auch Szenarien der klassischen Landes- und Bündnisverteidigung nicht länger unvorstellbar sind. Die Rhetorik des Kalten Krieges ist zurückgekehrt, und manche in den Archiven abgelegte Konzepte dienen plötzlich als Inspiration für die Verteidigungsplanung von morgen.

In solch einer Lage mag es als paradox erscheinen, dass die Bundesregierung dem Parlament alljährlich einen Bericht vorlegt, in dem sie über ihre Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung Rechenschaft ablegt. Dieser Eindruck relativiert sich jedoch, wenn man genauer betrachtet, wozu die zusätzlichen Mittel, die den Streitkräften in zahlreichen europäischen Staaten zur Verfügung stehen, tatsächlich ausgegeben werden. Nahezu ausnahmslos geht es darum, den Verfall militärischer Fähigkeiten zu stoppen und veraltetes, Gerät durch modernes zu ersetzen. Aufrüstung lässt sich dies nicht nennen, und auch eine neue Rüstungsspirale nach dem Muster der 1970er und 1980er Jahre wird dadurch nicht in Gang gesetzt.

Dieser Befund gilt allerdings nur für Europa. In anderen Weltregionen, allen voran Ostasien und Nahost, ist in den vergangenen Jahren eine massive Aufrüstung auf nahezu allen Gebieten festzustellen. In Fernost ist China der Motor dieser Entwicklung

Regionale Institutionen, die dem Rüstungswettlauf Einhalt gebieten oder Ausgangspunkt für eine Sicherheitsordnung sein könnten, gibt es nicht. Auch die Vereinten Nationen bieten sich hierfür nicht an. Ihre Bemühungen, ein Forum für Abrüstungsverhandlungen zu bieten, sind so vielfältig wie fruchtlos.

In der euroatlantischen Hemisphäre hingegen sind Vertragswerke, die kurz nach dem Kalten Krieg oder sogar noch in diesem ausgehandelt wurden, entweder bereits aufgekündigt, umstritten oder einer Aktualisierung bedürftig, ohne dass diese jemand mit der Aussicht auf Konsens in Angriff nähme. "Die seit Jahrzehnten bestehende Abrüstungs- und Rüstungskontrollarchitektur steht weiterhin vor erheblichen Herausforderungen", lautet Fazit der Bundesregierung in ihrem aktuellsten Bericht.

Als ein Erfolg internationaler Rüstungskontrollpolitik der jüngsten Zeit, an dem auch Deutschland Anteil hatte, darf immerhin das Anfang 2016 in Kraft getretene Nuklearabkommen mit dem Iran gelten. Unter dem Druck massiver Sanktionen hatte sich Teheran bereit erklärt, auf technologische Kapazitäten zu verzichten, die zum Aufbau eines Nuklearwaffenarsenals genutzt werden könnten - eine Absicht, die zu verfolgen der Iran stets bestritten hatte. So groß auch die Erleichterung war, als das Abkommen geschlossen werden konnte, so umstritten ist es geblieben. Israel und die USA argwöhnen, dass der Iran sein Atomprogramm lediglich für den im Abkommen definierten Zeitraum zurückgestellt, aber nicht gänzlich aufgegeben hat. Zudem arbeite er weiter an der Entwicklung von Mittelstreckenraketen, die später als Trägerwaffen für Nuklearsprengköpfe genutzt werden könnten. Eingelenkt hat der Iran zudem auf Druck, den vor allem der USA bis hin zur Androhung einer militärischen Intervention ausgeübt haben, und nicht, weil das Instrumentarium aus Nuklearem Nichtverbreitungsvertrag (NVV) und der dessen Einhaltung kontrollierenden Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) das erforderliche Durchsetzungsvermögen besessen hätte. Durch NVV und IAEO allein konnten Staaten, die sich diesem Regime erst gar nicht unterwarfen, wie Pakistan und Indien, oder aus diesem ausscherten, wie Nordkorea, nicht davon abgehalten werden, in den Besitz von Nuklearwaffen zu gelangen.

Gleichwohl kann das Instrumentarium aus Verträgen und Institutionen, die Produktion, Einsatz oder Verbreitung von atomaren, biologischen oder chemischen Massenvernichtungswaffen unterbinden oder regulieren sollen, als engmaschig gelten. Die Sensibilität für die Risiken einer Proliferation ist weltweit groß. Auf konventionellem Gebiet hingegen ist über Rüstungskontrollinstrumentarien oder Abrüstungsinitiativen, auf die sich während oder kurz nach dem Kalten Krieg die Hoffnungen richteten, die Zeit hinweggegangen. Zur Einhegung des Ost-West-Gegensatzes waren bloß zwei Vertragsparteien einzubinden. Die Welt von heute jedoch ist multipolar. Hybride Kriegsführung ist eher die Regel denn die Ausnahme. Konfliktparteien sind oftmals nicht mehr Staaten, die als Völkerrechtssubjekte in Verträge eingebunden werden könnten. Die Frage, wie unter diesen neuen Bedingungen Abrüstung zur Friedenssicherung betrieben werden kann, harrt einer Antwort.