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Amri-Ausschuss : Hinweise deuten

Experten berichten über die Dschihadisten einer neuen Generation und warum es so schwer ist, ihre Verhaltensweisen vorherzusagen

30.04.2018
2023-08-30T12:34:28.7200Z
4 Min

Sie waren in dieser Sachverständigenrunde gewissermaßen die Antipoden. Sindyan Qasem, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Islamische Theologie in Münster und Imad Karim, Regisseur, Drehbuchautor, Fernsehproduzent aus Mannheim, gebürtiger Libanese, der seit über 40 Jahren in Deutschland lebt. Der liberale Laizist Karim misstraut konservativen Muslimen und warnte vor dem "Ausverkauf der Werte der Aufklärung" durch allzu viel Entgegenkommen. Die Meinungs-, Glaubens- und Gewissensfreiheit gelte auch für Radikale, mahnte dagegen Qasem.

Der Sprach- und Kulturwissenschaftler aus Münster sieht die Gefahr, dass die Bekämpfung des radikalislamischen Terrorismus hierzulande in Gesinnungsschnüffelei und Inquisition ausarten könnte. Die Behörden müssten sorgsam darauf achten, nicht salafistische und islamistische "Einstellungen" zu verfolgen, sondern lediglich "terroristische Handlungen". Dass jeder Salafist in Gefahr sei, Terrorist zu werden, sei empirisch nicht zu belegen. Zu differenzieren sei auch zwischen Gewaltbefürwortern und Gewalttätern: "Wenn bestimmte Einstellungen beobachtet werden, die in einigen Fällen zu Gewalt führen, heißt das nicht, dass das in allen Fällen so ist."

Sträfliche Sorglosigkeit Jeder "kulturkämpferische Duktus" in der Debatte, die Gleichsetzung von Religiosität und Radikalität, sei "kontraproduktiv", sagte Qasem. Schon die Unterscheidung zwischen "moderaten" und "extremen" Muslimen berge den Keim der Stigmatisierung. Ebenso bedenklich wäre, wollte man Kritik an herrschenden Verhältnissen, jede "Widerstandsbekundung", als Indiz der Gewaltbereitschaft verdächtigen: "Es ist kein Verbrechen, sich gegen Unterdrückung einzusetzen."

Auf der Gegenseite beklagte Karim eine sträfliche Sorglosigkeit westlicher Gesellschaften, die den Begriff des "Islamismus" erfunden hätten, "um dem Islam einen Dauerpersilschein auszustellen". Dabei sei zwischen beiden kein Unterschied. Wenn im Westen das Bestreben, eine allein religiös legitimierte Gesellschaft zu schaffen, als Hauptmerkmal des Islamismus gelte, so werde verkannt, dass genau dies auf den Islam insgesamt zutreffe.

Solange Muslime sich weigerten, "die Rolle Mohammeds zu hinterfragen", sei Vorsicht angebracht. Der Religionsstifter habe Kriege geführt, Karawanen überfallen, Massaker angeordnet, seine Kritiker umbringen lassen: "Islamisten können sich auf den Propheten berufen, weil dieser im Prinzip nicht anders gehandelt hat als sie." Die Politik solle lieber auf die Warnungen liberaler und säkularer Muslime hören, als sich auf Islamkonferenzen mit konservativen Verbandsvertretern gemein zu machen.

Anhörung Es war am vorigen Donnerstag die zweite von drei Expertenanhörungen, mit denen der Amri-Untersuchungsausschuss seine öffentliche Tätigkeit aufnimmt. Thema: "Gewaltbereiter Islamismus und Radikalisierungsprozesse". Wie konnte der tunesische Kleinkriminelle Anis Amri auf die Idee kommen, sich den Zutritt zum Paradies erzwingen zu wollen, indem er auf einem Berliner Weihnachtsmarkt Dutzende Menschen mit einem Lastwagen überrollte? Was haben die Behörden, die ihn frühzeitig auf dem Schirm hatten, übersehen oder überhört? Gibt es womöglich objektivierbare Anhaltspunkte, aus denen sich eine Terrorprognose zuverlässig destillieren ließe? Diese Frage interessierte namentlich den Vorsitzenden Armin Schuster (CDU), doch die Experten machten ihm wenig Hoffnung.

Falsche Schlüsse Die Hinwendung zu dschihadistischer Ideologie und Praxis sei stets ein individueller und in jedem Einzelfall unterschiedlich verlaufender Vorgang. Darüber bestand Konsens in der Runde. Das mache es besonders schwer, Menschen mit einschlägigen Neigungen eindeutig zu identifizieren. Gerade im Fall Amri, sagte die Berliner Islamismus-Expertin Claudia Dantschke, hätten die Behörden Erkenntnisse falsch gewichtet und seien zu verkehrten Schlussfolgerungen gelangt. Der Mann sei als minder gefährlich eingeschätzt worden, weil bei ihm kein fromm-islamischer Lebenswandel zu beobachten war. Er habe gekifft, mit Drogen gehandelt und Alkohol getrunken. Zugleich allerdings habe er im Umfeld des radikalislamischen Predigers Abu Walaa und der Moabiter Fussilet-Moschee verkehrt, die später als islamistische Brutstätte geschlossen wurde: "Er hat nicht den Bruch vollzogen zu diesem Netzwerk." Den Behörden sei auch dieser Umstand bekannt gewesen. Sie hätten ihm indes in Abwägung gegen den lockeren Lebenswandel Amris nicht die nötige Bedeutung zugemessen. Dabei gelte für die neuere Generationen radikaler Islamisten, dass es mit ihren religiös-theologischen Kenntnissen und der Strenge ihrer Glaubenspraxis nicht weit her sei. Ihnen gehe es um Selbstaufwertung und den Jüngeren um eine "maximale Protestform gegen die Werteorientierung ihrer Elternhäuser".

Vor "idealtypischem Denken", der Vorstellung also, ein islamisch motivierter Terrorist könne nicht zugleich Drogenhändler sein, warnte auch Marwan Abou Taam, wissenschaftlicher Mitarbeiter des rheinland-pfälzischen Landeskriminalamts. Im Gegenteil: "Terrorismus und Kriminalität gehen Hand in Hand." Salafisten machten Kriminellen das Angebot, ihr Handeln als Erfüllung eines göttlichen Auftrags zu "sakralisieren", meinte Abou Taam: "Das heißt nicht, dass der Kriminelle sich geändert hat." Obendrein seien Rekruten, die sich durch Beschaffungsstraftaten "selbst finanzieren" könnten, ein Gewinn für jede Terrortruppe.