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Gastkommentare - Pro
Daniel Goffart, "Focus"
Etwas viel der Ehre

»Offene Gesellschaft« auch ohne 68?

J a, sie haben ihre Nazi-Väter zum Reden gezwungen. Ja, sie haben die freie Liebe propagiert und den Muff unter den Talaren aus den letzten 1.000 Jahren gelüftet. Aber wäre unsere offene Gesellschaft ohne die 68er nicht entstanden? Bei allem Respekt vor der Zivilcourage der damaligen "Rebellen" - ihnen ein halbes Jahrhundert später diese fast historische Bedeutung zuzumessen, wäre doch etwas viel der Ehre.

D ie 68er haben sicher einen Anteil daran, dass wir heute in einem modernen, weltoffenen und liberalen Deutschland leben. Aber die meisten dieser positiven Prägungen gehen auf andere Ursachen zurück. Dazu zählen breiter Wohlstand, föderale Machtverteilung und ein funktionierender Rechtsstaat. Erst auf diesen Grundlagen gedeihen dann Werte wie Bürgersinn, ehrenamtliches Engagement und Zivilcourage.

Je besser ein Staat in diesem Sinne funktioniert, um so mehr Raum entsteht schließlich für Respekt und Toleranz - sei es gegenüber Religionen, Weltanschauungen oder Lebensstilen. Und nicht zuletzt: Errungenschaften wie Gewaltfreiheit, Gleichberechtigung und Achtung vor der Natur fanden erst später Eingang in den gesellschaftlichen Mainstream.

Außerdem waren die 68er nicht gewaltfrei und gegenüber anderen Meinungen auch nicht tolerant, das wird bei der versuchten Heiligsprechung zum 50-jährigen Jubiläum gerne vergessen. Auf den Straßen flogen Steine, in den besetzten Hörsälen wurden Andersdenkende niedergebrüllt. Und ob die sexuelle Revolution in den Kommunen wirklich der wichtigste Beitrag zur Gleichberechtigung der Frauen war, kann auch bezweifelt werden. Insofern möchte man den Alt-Linken zurufen: Genossen, bitte bleibt bescheiden!

Aus Politik und Zeitgeschichte

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