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Gastkommentare : Offene Gesellschaft auch ohne die 68er? Ein Pro und Contra

Wäre die offene Gesellschaft ohne die 68er nicht entstanden? Das ist ein bisschen viel der Ehre, sagt Gastkommentator Daniel Goffart. Stefan Reinecke hält dagegen.

08.01.2018
2024-02-06T11:03:27.3600Z
2 Min

Pro

Etwas viel der Ehre

Foto: Privat
Daniel Goffart
ist Politikchef und Leiter der Hauptstadtredaktion "Focus".
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Ja, sie haben ihre Nazi-Väter zum Reden gezwungen. Ja, sie haben die freie Liebe propagiert und den Muff unter den Talaren aus den letzten 1.000 Jahren gelüftet. Aber wäre unsere offene Gesellschaft ohne die 68er nicht entstanden? Bei allem Respekt vor der Zivilcourage der damaligen "Rebellen" - ihnen ein halbes Jahrhundert später diese fast historische Bedeutung zuzumessen, wäre doch etwas viel der Ehre.

Die 68er haben sicher einen Anteil daran, dass wir heute in einem modernen, weltoffenen und liberalen Deutschland leben. Aber die meisten dieser positiven Prägungen gehen auf andere Ursachen zurück. Dazu zählen breiter Wohlstand, föderale Machtverteilung und ein funktionierender Rechtsstaat. Erst auf diesen Grundlagen gedeihen dann Werte wie Bürgersinn, ehrenamtliches Engagement und Zivilcourage.

Je besser ein Staat in diesem Sinne funktioniert, um so mehr Raum entsteht schließlich für Respekt und Toleranz - sei es gegenüber Religionen, Weltanschauungen oder Lebensstilen. Und nicht zuletzt: Errungenschaften wie Gewaltfreiheit, Gleichberechtigung und Achtung vor der Natur fanden erst später Eingang in den gesellschaftlichen Mainstream.

Außerdem waren die 68er nicht gewaltfrei und gegenüber anderen Meinungen auch nicht tolerant, das wird bei der versuchten Heiligsprechung zum 50-jährigen Jubiläum gerne vergessen. Auf den Straßen flogen Steine, in den besetzten Hörsälen wurden Andersdenkende niedergebrüllt. Und ob die sexuelle Revolution in den Kommunen wirklich der wichtigste Beitrag zur Gleichberechtigung der Frauen war, kann auch bezweifelt werden. Insofern möchte man den Alt-Linken zurufen: Genossen, bitte bleibt bescheiden!

Contra

Sie waren das Enzym

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Stefan Reinecke
ist Korrespondent für "die tageszeitung".
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Die 68er haben genervt. Sie haben sich in x-autobiographischen Erzählungen zur Generation an sich stilisiert, an der gemessen alle anderen Leichtgewichte waren, bestenfalls Epigonen. Sie waren talentierte, medienfixierte Selbstdarsteller. Auch die Erzählung, dass sie im Alleingang die finstere postfaschistische, vermuffte Republik entrümpelten, gehört zu dieser Selbstüberhöhung. Die "Fundamentalliberalisierung", die Jürgen Habermas diagnostizierte, geht nicht nur auf das Konto einiger Aktivisten. Die 68er wären nicht erfolgreich gewesen, hätte die Republik sich nicht langsam von einer fordistischen Industriegesellschaft in einen postmodernen, individualistischen Konsumkapitalismus verwandelt, hätte es keinen explodierenden Bildungssektor, keine entstehende Popkultur und Freizeitgesellschaft gegeben.

Aber in diesem Prozess waren sie ein Enzym, das das Tempo beschleunigte und die Richtung änderte. Politisch sind die 68er mit ihrem verstockten Linksradikalismus gescheitert, aber sie haben die Alltagskultur verändert, die Sitten gelockert, das Geschlechterverhältnis entkrampft und mit einer Pädagogik gebrochen, in der das Kind nur Objekt war. Also einfach die Fenster aufgemacht.

Die 68er haben vieles diskursiv verflüssigt. Keine Autorität war mehr selbstverständlich. Dass die Selbstreflexion Normalmodus der Gesellschaft wurde, liegt auch an den 68ern.

Wie wäre die Republik ohne Revolte geworden? Wahrscheinlich: steifer, langweiliger, leidenschaftsloser. Nur weil die 68er sich narzisstisch lange größer machten als sie es waren, müssen wir sie nicht kleiner machen. Strukturen allein machen keine Geschichte, sondern Figuren, irrende, kluge, verrückte, begeisterte Akteure.